Geschichte der Psychologie

Gebietsüberblick | Prof. em. Dr. Helmut E. Lück

Mit der Geschichte der Psychologie sind der Gegenstand der sich ändernden Psychologie sowie die Darstellung dieser Veränderungen selbst gemeint. In der ersten Bedeutung geht es um das sich wandelnde Forschungsgebiet, die akademische Disziplin und das Berufs- und Tätigkeitsfeld. In der zweiten Bedeutung ist Psychologiegeschichte als Wissenschaftsgeschichte zu verstehen. Sie ist für das Verständnis der Psychologie von besonderer Bedeutung, denn die Fortschritte der Forschung, die Theorieentwicklung und der Wandel der Lehrmeinungen usw. drängen nach Erklärungen und dienen dem besseren Verständnis der gegenwärtigen Psychologie. Mit W. Traxel (1985) ist hierbei zu fordern, dass Psychologiegeschichte nicht nur als kontemplative, sondern als aktive Geschichte betrieben wird, der sogar die Rolle der Mahnerin des Fachs zukommen kann. Es ist sinnvoll, zwischen der Disziplin Psychologie, die lange als Subdisziplin der Philosophie gelehrt wurde, und der Psychologie als Wissenschaft, die lange Zeit ­multidisziplinär orientiert war, zu unterscheiden.

Entwicklungslinien

«Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.» Mit dieser häufig zitierten (und heute sachlich bestrittenen) Aussage meinte H. Ebbinghaus, (1908) zum einen eine lange Zeit seit der Antike, zum anderen das Entstehen einer neuen Wissenschaft im 19. Jahrhundert, für das er Erfolge der Naturwissenschaften, aber auch die Begründung erster Fachzeitschriften Ende des 19. Jahrhunderts benannte. Als Beginn der akademischen Psychologie in Deutschland wird dementsprechend häufig das Jahr 1879 genannt, in dem W. Wundt (1832 – 1920) als ausgebildeter Physiologie, nunmehr Professor für Philosophie an der Universität Leipzig, ein kleines Psychologie-Laboratorium in der Philosophischen Fakultät einrichtete. Das Leipziger Institut war weltweit Vorbild für viele Psychologie-Institute, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts begründet wurden; aber experimentelle psychologische Forschung gab es schon vor Wundt (z. B. Fechner, 1860). Selbst Psychologie als Disziplin mit Lehrangeboten, Lehrbüchern und Prüfungen setzte früher ein: Das früheste bekannte Datum zur rechtlich verbindlichen Ausbildung und Prüfung in Psychologie geht vermutlich auf das Jahr 1824 zurück (Gundlach, 2004). Schon lange davor war Psychologie etabliertes Teilgebiet der Philosophie (Scheerer, 1989). Christian Wolffs (1679 – 1754) Psychologia empirica (Wolff, 1728) und Psychologia rationalis (Wolff, 1732) gelten als frühe Versuche der Begründung einer eigenen Wissenschaft. Die Trennungsgeschichte (Schmidt, 1995) und die Begründung der Psychologie als Einzelwissenschaft erfolgten jedoch erst viel später.

Aufgabe der Psychologiegeschichte ist es, historische Veränderungen in Fragestellungen, Theoriebildung, Forschungs- und Anwendungsmethoden zu beschreiben, Fortschritte und auch Fehlentwicklungen zu skizzieren. Die Suche nach theoretisch begründeten Erklärungen für diese Veränderungen ist eine wesentliche Aufgabe. Darstellungen zur Geschichte der Psychologie gab es schon in früheren Jahrhunderten; Impulse zur Beschäftigung mit der Psychologiegeschichte gingen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland u. a. von überraschenden Befunden zur Psychologie im Nationalsozialismus aus. Auch ließen wissenschaftsgeschichtliche Ansätze, wie der von T. Kuhn, die Frage nach Gesetzmäßigkeiten der Fachgeschichte aufkommen. Schließlich gibt es inzwischen ein gewachsenes Interesse der Kulturwissenschaften an der Psychologiegeschichte (Borck & Schäfer, 2005).

Ansätze

Gegenüber einer moralisierenden Geschichtsbetrachtung erhob der Historismus des 19. Jahrhunderts den Anspruch, historische Ereignisse und Entwicklungen so darzustellen, wie sie wirklich waren. Dieser zunächst fortschrittliche Anspruch musste bald aufgegeben werden, denn Geschichte ist immer Rekonstruktion. Eine umfassende Geschichte der Experimentalpsychologie ist A history of experimental psychology von Boring (1929). Dieses Buch war lange Zeit ein Standardwerk. Boring (1886 – 1968) stellte das Ziel, Leben und Werk einzelner Experimentalpsychologen in den Mittelpunkt. Heute sieht man diesen sog. Great-Men-Ansatz Borings kritisch: Zur Wissenschaftsgeschichte gehört es auch, die vielfältigen Umstände der Entwicklung herauszuarbeiten. In der zweiten Auflage seiner History (Boring, 1950) versuchte Boring bereits stärker auf ideengeschichtliche Strömungen Bezug zu nehmen und den psychologischen Forscher etwas weniger als «great man» und etwas mehr als Teil seiner Kultur darzustellen. Der deutsche Begriff «Zeitgeist» wurde nun zu Borings bevorzugtem Ausdruck. Während die «Ideengeschichte» nach dem Entfaltungskonzept meist chronologisch dargestellt wird, behandelt die «Problemgeschichte» einzelne Probleme, Themen, Konzepte – wie z. B. das Leib-Seele-Problem – jeweils neu «von Anfang an».

Heute bemüht man sich in der Psychologiegeschichte um eine genauere Analyse der Zusammenhänge von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Faktoren mit der Psychologie. Diese kontextualistische Psychologiegeschichte (Danziger, 1990) schließt die Institutionengeschichte ebenso ein wie die erheblichen Wirkungen der Nachfrage nach psychologischem Wissen auf die Psychologie selbst. Auch die biografische Forschung in der Psychologiegeschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten stärker auf eine sozialgeschichtliche Betrachtung verlagert.

 

Quellen und Methoden

Im Mittelpunkt der psychologiegeschichtlichen Forschungsmethoden steht das Quellenstudium. Als Quellen zur Geschichte der Psychologie dienen wiss. Veröffentlichungen, Manuskripte, Vorlesungen, Geräte, Untersuchungsprotokolle, dokumentierte Befragungen, Briefe, Lebenserinnerungen und vieles mehr. Die Schwierigkeiten der historischen Forschung liegen darin, dass historische Quellen durch Kriege, bewusste Vernichtung (z. B. nach dem Ende der NS-Zeit) usw. nur zum Teil verfügbar sind und dass sich Quellen in ihren Aussagen widersprechen können. Meist wird man den ereignisnahen Quellen größere Bedeutung beimessen als später entstandenen, wie z. B. den Lebenserinnerungen, die oft in hohem Lebensalter verfasst wurden. Sammlungen und Archive dienen der historischen Forschung: Das Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie der Universität Würzburg, das Psychologiegeschichtliche Forschungsarchiv der Fernuniversität in Hagen, Sammlungen an den Universitäten Graz, das Wilhelm-Wundt- Gedenkzimmer und Dokumentationen von Tagebüchern, Briefen usw. besonders zu G. T. Fechner und W. Wundt der Universität Leipzig, eine psychologiegeschichtliche Sammlung der Humboldt-Universität und einige weitere Sammlungen wie z. B. das Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e. V. Freiburg/Breisgau. Die wohl größte Sammlung von Dokumenten zur Psychologiegeschichte beherbergt das Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology an der University of Akron, Ohio (USA). Zu den Methoden der Auswertung zählen die geisteswissenschaftlichen Methoden (Hermeneutik), quantitative Auswertungen, wie z. B. Werkstatistiken, Zitationsanalysen usw. Relativ selten sind Sekundäranalysen von Untersuchungen in psychologiegeschichtlichem Interesse oder gar Rekonstruktionen weit zurückliegender experimenteller Anordnungen und Replikationen früher Untersuchungen (z. B. Wontorra, 2009).

Zum Stand von Wissenschaft und Disziplin

Zu der reichhaltigen Geschichte der Psychologie im deutschen Sprachbereich gibt es eine nennenswerte Anzahl von Lehrbüchern, Monografien, Tagungsberichten, Biografien, Biografie- und Autobiografiesammlungen sowie Forschungsvorhaben (Brauns, 2005). Zunehmend häufiger sind diese interdisziplinär und auch international angelegt. Geschichte der Psychologie ist in vielen Ländern ein eigenes Prüfungsfach in der Ausbildung von Psychologen

Referenzen und vertiefende Literatur

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