Pädagogische Psychologie

Gebietsüberblick | Prof. Dr. Marcus Hasselhorn

Die Pädagogische Psychologie [gr. παῖς (pais) Kind, ἄγειν (agein) führen, lenken; παιδαγωγικὴ (paidagogike) Erziehung, Unterweisung] ist ein Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Beschreibung, Erklärung und Optimierung menschlichen Erlebens und Verhaltens in Erziehungs- und Bildungsprozessen befasst. Unter der Annahme eines andauernden und lebenslangen Lernens bezieht sich die Pädagogische Psychologie dabei nicht ausschließlich auf den schulischen Kontext (z. B. im Sinne der Optimierung von Lehr- oder Unterrichtsprozessen), sondern schließt vielmehr auch außerschulische Erziehungs- und Bildungsprozesse (z. B. im familiären Kontext, im Kontext früher Bildung sowie im Kontext der Erwachsenenbildung) mit ein. Pädagogische Psychologie bezieht sich somit auf viele verschiedene Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationskontexte und weist zahlreiche Berührungspunkte mit weiteren Bereichen der Erziehungs- und Bildungswissenschaften auf. Als zentrale Bezugsdisziplinen können dabei u. a. die Allgemeine Psychologie (im Bereich der Kognition, Sprache, Motivation und Emotion), die Sozialpsychologie (z. B. im Bereich der Kooperation und des Sozialverhaltens), die Entwicklungspsychologie (i. S. einer altersgemäßen Gestaltung von Bildungs- und Lernprozessen), die Differentielle Psychologie (z. B. im Kontext von kognitiven, motivationalen und volitionalen Voraussetzungen des Lernens) sowie die Psychologische Diagnostik genannt werden.

Lehren und Unterrichten

Aufseiten der Lehrenden bilden gutes und nachhaltiges Fördern und Unterrichten sowie Lehrerprofessionalisierung und -expertise zentrale Aspekte der Pädagogischen Psychologie. Im Fokus steht dabei u. a. die Identifikation geeigneter Lehrstrategien wie z. B. (je nach Situation) das problemorientierte, das darstellende und/oder das kollaborative Vorgehen. Zudem spielen die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften, die Nutzung angemessener Bezugsnormen (je nach Situation sozial, individuell, kriterial) bei der Beurteilung von Lernleistungen sowie die Lehrer-Schüler-Interaktion eine wesentliche Rolle. Des Weiteren sind Gründe für das Entstehen von und der Umgang mit Unterrichtsstörungen (z. B. im Kontext von Regeln und Klassenführung) von zentraler Bedeutung. Und auch die Frage nach Belastungen und Belastungsfolgen (z. B. Burn-out) im Lehrerberuf sowie Möglichkeiten der Einstellungs- und Verhaltensschulung von Lehrern (sog. Lehrertrainings) sind relevant. Zudem können verschiedene Bedingungen schulischen Lernens wie z. B. die Gestaltung von Lernumgebungen, das Sozialklima in der Klasse, der Schule und im Unterricht, aber auch strukturelle Bedingungen (z. B. die Klassengröße) als zentrale Größen betrachtet werden. Des Weiteren stehen bestimmte Verhaltensweisen gegenüber einzelnen oder mehreren Schülern oder Lehrern (z. B. Mobbing) sowie die Auswirkungen schulischen Lernens (i. S. von Schuleffekten) und somit der Organisation Schule im Fokus. Ebenso von Bedeutung sind weitere außerschulische, jedoch in vielen Fällen mit schulischem Lernen assoziierte Lernsituationen wie z. B. das Lernen mit Medien oder Hausaufgabensituationen.

 

Schulische Beurteilungs- und Bewertungsprozesse

Die Pädagogische Psychologie entwickelt und evaluiert zudem Verfahren zur Erfassung von Lernleistungen und beschäftigt sich mit den Modellen und Erhebungsverfahren zur angemessenen Beurteilung von Unterrichtsqualität. Hierzu zählen zunächst standardisierte diagnostische Verfahren, die in enger Beziehung zu curricularen Inhalten stehen und dazu dienen, Verläufe und Ergebnisse von Lehr-Lern-Prozessen möglichst differenziert zu erfassen und für das weitere pädagogische Handeln nutzbar zu machen (z. B. standardisierte Schulleistungstests). Ebenfalls zu diesem Bereich zählen weitere Möglichkeiten der Leistungsbeurteilung wie spezielle schriftliche und mündliche Prüfungen, Arbeitsproben, Lerntagebücher oder Portfolios. Des Weiteren können verschiedene Verfahren der Selbst- und Fremdbeurteilung (z. B. Fragebögen zur Erfassung des schulischen Selbstkonzepts, des Klassenklimas oder des Lehrerverhaltens bzw. Selbst- und Fremdeinschätzungsverfahren zu z. B. Zeit- und Mediennutzung) sowie verschiedene Aspekte der Lehrevaluation (zur Sicherung und Verbesserung der Lehrqualität) in diesem Bereich verortet werden. Auf Ebene der Bildungssysteme haben internationale Schulleistungsvergleiche (als Erfassung und Vergleich international als relevant erachteter schulischer Fähigkeiten, z. B. im Kontext von TIMSS, IGLU, PISA) in den vergangenen Jahren die Forschung in diesem Bereich wesentlich befördert.

 

Lernen, zentrale schulische Lern­bereiche, Leistungsstörungen und Präventions- bzw. Interventions­ansätze

Auf Seiten des Lernenden stehen vor allem kognitive, motivationale und volitionale Voraussetzungen des Lernens im Fokus der Pädagogischen Psychologie. Sie befasst sich mit den personalen Voraussetzungen verschiedener Lernprozesse und schließt dabei sowohl weitgehend kognitiv orientierte Merkmale wie z. B. Intelligenz oder Kreativität, aber auch verschiedene, die motivationalen und volitionalen Aspekte des Lernens stärker betonende Merkmale wie Lernmotivation, Interesse oder Handlungskontrolle mit ein. Des Weiteren befasst sich die Pädagogische Psychologie mit selbstbezogenen Voraussetzungen des Lernenden wie z. B. der Kausalattribution, dem Fähigkeitsselbstkonzept oder der Leistungsangst. Zudem werden soziodemografische (z. B. Alter, Geschlecht), soziale, kulturelle und genetische Determinanten der Lernfähigkeit und von Lernprozessen untersucht.

Einen weiteren Schwerpunkt der Pädagogischen Psychologie bilden zentrale schulische Leistungsbereiche wie z. B. der Schriftspracherwerb (Erwerb von Lese- und Rechtschreibfähigkeiten), der Erwerb mathematischer Kompetenzen sowie der Erwerb naturwissenschaftlicher und fremdsprachlicher Kompetenzen. Dabei interessiert zunächst der typische und störungsfreie Erwerb spezieller Fertigkeiten und Kernkompetenzen, gleichzeitig werden jedoch auch – in einem Überschneidungsbereich zur Klinischen Psychologie – auf Teilleistungsbereiche bezogene Schwächen und Störungen wie z. B. Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oder Rechenstörungen relevant. Des Weiteren können bereichsübergreifende Lern- und Verhaltensstörungen wie z. B. Lernbehinderungen, Aufmerksamkeitsproblematiken oder antisoziales Verhalten in diesem Bereich der Pädagogischen Psychologie verortet werden. Eng mit diesen Inhaltsbereichen verknüpft stehen Möglichkeiten pädagogisch-psychologischer Prävention und Intervention, die sich wiederum in bereichsübergreifende Ansätze (z. B. Prävention und Intervention bei Aufmerksamkeits- oder Motivationsproblemen) und bereichsspezifische Ansätze (z. B. Prävention und Intervention bei Teilleistungsschwächen und -störungen) unterteilen lassen.

 

Außerschulische Erziehungs- und Bildungsprozesse

Im Kontext außerschulischer Bildungs- und Erziehungsbereiche sind zunächst die Familie als zentrale Bildungsinstanz sowie die Eltern in ihrer Funktion als Erzieher (auch im Hinblick auf verschiedene Erziehungsstile und -ziele) zu nennen. Einen weiteren wichtigen Bereich decken vorschulische Angebote der frühen Bildung ab, die vor allem in den letzten Jahren einen deutlichen Wandel sowie eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung ihrer Bildungsfunktion erfahren haben. Darüber hinaus sind außerschulische Fort- und Weiterbildungsangebote sowie verschiedene Angebote der erziehungs- und bildungsbezogenen Beratung und Förderung (z. B. Erziehungs- und Familienberatung, Gesundheitsförderung) Gegenstand der pädagogisch-psychologischen Modellbildung und Forschung.

 

Referenzen und vertiefende Literatur

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