bipolare Störungen
[engl. bipolar disorders; lat. bi- zwei-, gr. πολος (polos) Achsenpunkt], [KLI], zählen zu den schwerwiegendsten psychischen Störungen mit vgl.weise hoher Mortalität, gravierenden Begleit- und Folgebelastungen, komplexen Therapieerfordernissen und ungünstiger Prognose. Sie umfassen eine Reihe von Diagnosen aus dem affektiven Formenkreis, deren zentrales Charakteristikum im chronisch-rezidivierenden Verlauf mit wechselnden manischen bzw. hypomanen und depressiven sowie gemischten Episoden oder Zuständen besteht, die wiederum von beschwerdefreien (euthymen) Intervallen unterschiedlicher Länge unterbrochen werden. Die Symptomatik schwankt dabei zw. extremen Zuständen in den Bereichen Antrieb, Aktivität und Stimmung («himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt»). Die depressiven Episoden entsprechen in ihrer Phänomenologie der unipolaren Major Depression. Manische Zustände (Manie) sind demgegenüber gekennzeichnet durch extrem übersteigerten Antrieb, Rastlosigkeit, verringertes Schlafbedürfnis, euphorische oder gereizte Stimmung und kogn. Hyperaktivität, häufig verbunden mit Größenideen und verringerter Realitätswahrnehmung. Maniker werden von außen häufig als bes. kreative und charismatische Persönlichkeiten wahrgenommen. Während der Manie neigen b. Pat. zu impulsiven, unkontrollierten und hinsichtlich ihrer Folgerisiken unbedachten Handlungen (Kreditaufnahme, Firmengründung, Ausgeben hoher Geldbeträge im «Konsumrausch») und ausgeprägten Risikoverhaltensweisen (Straßenverkehr, Sexualität, Sport), die mit massiven gesundheitlichen, finanziellen, juristischen und sozialen Risiken verbunden sein können. Dabei fokussieren die Betroffenen in dieser Phase ihre gesamte Kapazität auf best. Teilaspekte ihres Lebens, während sie gleichzeitig ihre Rollenaufgaben und Verpflichtungen in anderen Lebensbereichen (Familie, Beruf) massiv vernachlässigen. Unter Hypomanie versteht man eine weniger stark ausgeprägte Form der Manie mit deutlich gehobener Stimmung, gesteigertem Antrieb und erhöhter Leistungsfähigkeit über dem normalen Niveau. Während hypomaner Phasen sind Selbstkontrolle sowie Selbstkritik- und Selbststeuerungsfähigkeit häufig reduziert, Selbstbild und Risikobewusstsein aber übersteigert. Eine gemischte Episode ist gekennzeichnet durch das gleichzeitige oder schnell wechselnde Auftreten manischer/hypomaner und depressiver Symptome (z. B. Antriebssteigerung und Dysphorie). In der subj. Wahrnehmung der Pat. werden die depressiven Phasen durchgängig als aversiv, die manischen oder hypomanen Zustände aber überwiegend sogar als angenehm erlebt. Während der Manie/Hypomanie fürchten die Betroffenen vor allem den als bes. krass erlebten Switch in die Depression. Bei der Zyklothymie handelt es sich um eine chronisch fluktuierende affektive Störung, in der zahlreiche Perioden mit hypomaner und depressiver Symptomatik zeitlich getrennt voneinander auftreten, die die diagn. Kriterien einer Hypomanie hinsichtlich Anzahl, Schweregrad, Intensität und Dauer nicht voll erfüllen.
Ätiologie: Die Ätiopathogenese der bipolare Störungen ist noch weitgehend ungeklärt. Wahrscheinlich ist eine multifaktorielle Genese im Zusammenspiel biopsychosozialer Einflussfaktoren (Krankheitsmodelle) und Persönlichkeitscharakteristika für die Entstehung verantwortlich. Da bipolare Störungen neben den Schizophrenien die höchsten Konkordanzraten in Zwillingsstudien aufweisen, wird ein relativ hoher genetischer Anteil in der Ätiologie angenommen. Auch die charakteristische Periodizität und die bes. Vulnerabilität gegenüber Störungen des Alltags- und Schlaf-Wach-Rhythmus sprechen für eine prominente Rolle biol. Grundstörungen in der Pathogenese. Als Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf und eine ungünstige Prognose wurden folg. unspezif. Faktoren ermittelt: weibliches Geschlecht, prämorbid schwerwiegende kritische Lebensereignisse und ungünstige Persönlichkeitsmerkmale sowie unzureichende Bewältigungsressourcen (Coping), frühes Erstmanifestationsalter, gemischte Episoden, Rapid Cycling (schneller Phasenwechsel, mind. viermal pro Jahr), psychotische Symptome, hohe Episodenfrequenz, psych. oder somatische Komorbidität, Substanzgebrauch, schlechte Compliance, unzureichende pharmakotherapeutische Response.
Klassifikation: Im DSM-5 werden die Bipolarspektrumsstörungen von den Depressionen abgegrenzt und klassifikatorisch zw. den Schizophreniespekrumstörungen und anderen Psychosen einerseits und den depressiven Störungen andererseits eingeordnet (Klassifikation psychischer Störungen; s. Anhang I). Das DSM-5 unterscheidet wie DSM-IV und ICD-10 die Bipolar-I-Störung (F31.1), die Bipolar II-Störung (F31.8) und die Zyklothyme Störung (F34.0). Die Bipolar-II-Störung wird nicht länger als abgeschwächte Form der Bipolar-I-Störung betrachtet, da die Betroffenen langfristig unter wiederkehrenden depressiven Episoden und unter der anhaltenden Stimmungslabilität mit den daraus resultierenden psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen leiden. Nach DSM-5 ist es für die Diagnose einer Bipolar-I-Störung notwendig, dass die Kriterien für mind. eine manische Episode in der Anamnese erfüllt sind: Abgrenzbare Periode abnorm und anhaltender gehobener, expansiver oder reizbarer Stimmung und anhaltend gesteigerter zielgerichteter Aktivität und Energie von mind. einer Woche Dauer, welche die meiste Zeit des Tages an fast allen Tagen vorhanden sind (Kriterium A). Dabei müssen mind. drei Symptome aus Kriterium B vorhanden sein: Übersteigertes Selbstwertgefühl und Größenideen, vermindertes Schlafbedürfnis, vermehrte Gesprächigkeit und Rededrang, Ideenflucht und Gedankenrasen, erhöhte Ablenkbarkeit, Zunahme zielgerichteter Aktivität oder psychomotorische Unruhe, übermäßige Beschäftigung mit Aktivitäten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen (exzessives Einkaufen, sexuelle Abenteuer, unsinnige Investitionen). Im DSM-5 wird die diagn. Codierung auf Basis der letzten aktuellen Episode vorgenommen. Zusätzlich kann nach Schweregrad (leicht, mittel, schwer), psychotischen Merkmalen und Remissionsstatus (teil, voll) codiert sowie eine ergänzende Merkmalsbeschreibung ohne Code (z. B. mit Angst, gemischten Merkmalen, Rapid Cycling) vorgenommen werden. Das Vorhandensein einer depressiven Episode ist für die Diagnosevergabe der Bipolar-I-Störung nicht zwingend erforderlich, wenngleich die allermeisten Pat. mit manischen Episoden irgendwann im Verlauf auch depressive Episoden erleben. Für die Diagnosestellung einer Bipolar-II-Störung ist demgegenüber erforderlich, dass die Kriterien mind. einer hypomanen und die Kriterien mind. einer Episode einer Major Depression (MDE) erfüllt sind. Die Charakteristika der Hypomanie entsprechen weitgehend den manischen Symptomen, ohne aber so schwer zu sein, dass sie deutliche soziale oder berufliche Funktionsbeeinträchtigungen verursachen oder eine Hospitalisierung erforderlich machen. Die Episode einer Major Depression sollte mind. zwei Wochen, die hypomane Periode mind. vier Tage bestehen. Während der affektiven Episode sollte die erforderliche Symptomanzahl an fast allen Tagen die meiste Zeit des Tages bestehen. Bei Vorliegen einer vollsyndromalen manischen Episode in der Vergangenheit wird die Diagnose Bipolar-I gegeben. Bei der zyklothymen Störung müssen über einen Zeitraum von mind. zwei Jahren zahlreiche Perioden mit hypomanen Symptomen auftreten, die nicht die Vollkriterien einer hypomanen Episode erfüllen, sowie zahlreiche Perioden mit depressiven Symptomen, die nicht die Vollkriterien einer MDE erfüllen. In diesem Zweijahreszeitraum müssen die hypomanen und depressiven Perioden an mind. der Hälfte der Zeit vorhanden und die Person darf nicht länger als zwei Monate symptomfrei sein. Die Diagnose wird nur gestellt, wenn in der Vergangenheit die Kriterien für eine vollsyndromale hypomane, manische oder depressive Episoden nie erfüllt waren. ICD-10 und DSM-5 unterscheiden sich nur geringfügig in den konkreten Symptomkriterien für manische, hypomane und depressive Episoden. In der Einordnung der Syndrome findet sich aber eine bedeutsame Abweichung: I. Ggs. zum DSM-5 nutzt das ICD-10 die Bez. Bipolare affektive Störung (F31) und unterscheidet nicht explizit nach Bipolar-I- und Bipolar-II-Diagnosen, sondern nach dem akt. Vorhandensein einer hypomanischen (F31.0) oder manischen (F31.1) oder depressiven Episode (F31.3) sowie nach Auftreten manischer bzw. depressiver Episoden mit psychotischen Symptomen (F31.2; F31.5) und nach Schweregrad. Außerdem verwendet das ICD-10 die Diagnosekategorie der Bipolaren affektiven Psychose (F31.5, F31.6, F31.7), die im DSM aufgegeben wurde.
Prävalenz: Die Lebenszeitprävalenz der Bipolar-I-Störung liegt nach den Ergebnissen von aktuellen bevölkerungsrepräsentativen epidemiologischen Studien bei etwa 3 %, die der sog. Bipolar-Spektrumserkrankungen bei ca. 5 %. Möglicherweise wird die wahre Prävalenz der bipolaren Störung unterschätzt, da sie überproportional häufig nicht erkannt, sondern bspw. als unipolare Depressionen oder als ADHS fehldiagnostiziert werden. bipolare Störungen beginnen meist in Adoleszenz oder frühem Erwachsenenalter. 75 % der Pat. erleiden ihre erste Episode bis zum 25. Lebensjahr. I. Ggs. zu den meisten anderen psych. Störungen ist das Geschlechtsverhältnis ausgeglichen. Bei bipolaren Störungen treten hohe Komorbiditäten, insbes. mit Substanzstörungen (Sucht- und Substanzbezogene Störungen) und Impulskontrollstörungen (z. B. pathologisches Spielen), Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen auf. In Bevölkerungssurveys aus den USA und Europa war die Komorbidität mit Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit bis zu sechsfach erhöht. B. Pat. konsumieren unterschiedliche legale und illegale Drogen. Dabei werden in der manischen Phase überwiegend nicht gegenregulativ sedierende, sondern zusätzlich stimulierende Substanzen konsumiert. bipolare Störungen weisen bes. hohe Rezidivraten auf, wobei der indiv. Verlauf sehr unterschiedlich aussehen kann. Bei der Mehrheit der Pat. treten im Lebensverlauf nur einige Episoden auf, bei jedem zehnten Pat. liegt die Episodenanzahl allerdings bei über 10. Im Langzeitverlauf b. affektiver S. treten manische Episoden deutlich seltener auf und sind im Durchschnitt kürzer als depressive Phasen. Bis zu 20 % der Bipolar-I-Pat., insbes. Frauen (80 %), leiden unter dem bes. schwerwiegenden Typus des Rapid Cycling, der durch einen schnellen Wechsel von manischen/hypomanen und depressiven Phasen und eine extrem hohe Episodenanzahl gekennzeichnet ist. Das Risiko, eine derartig hohe Phasenfrequenz zu entwickeln, steigt mit der Störungsdauer. Bei vielen Pat. persistiert eine Residualsymptomatik, die wiederum mit erhöhtem Rezidivrisiko und dauerhaften Beeinträchtigungen des sozialen Funktionsniveaus verbunden ist. Die bipolare Störungen ist mit bes. gravierenden psychosozialen Beeinträchtigungen (Arbeitsunfähigkeitszeiten, Verlust der Berufs- und Erwerbsfähigkeit, Partnerverlust, familiäre Zerwürfnisse und sozialer Isolation bzw. Ausgrenzung), Sekundärschäden (Unfallverletzungen, organismische Schädigungen durch Substanzmissbrauch, irreversible psych. Beeinträchtigungen) und Krankheitsfolgebelastungen (jurist. Konsequenzen, finanz. Probleme bis hin zur Privatinsolvenz) verbunden, die sich wiederum neg. auf den Störungsverlauf auswirken können. bipolare Störungen gehören nach WHO-Angaben weltweit zu den zehn Krankheiten mit der höchsten Rate dauerhafter Behinderung. Diese Störungsfolgen, die nach ICF kodierbar sind, machen etwa 80 % der enormen gesundheitsökonomischen Belastungen aus. Das Suizidrisiko b. Pat. ist doppelt (Suizidversuch) bis dreimal (vollendeter Suizid) höher als bei unipolar Depressiven und fünf- bis sechsfach gegenüber der Allg.bevölkerung erhöht, insbes. bei Komorbidität mit Substanzstörungen.
Diagnostik: Die Diagnosestellung einer bipolaren Störungen ist aus versch. Gründen bes. schwierig: (1) Die Diagnose muss immer längsschnittlich gestellt werden. Dabei sind nach DSM-5 einige diagn. Regeln zu beachten: Findet sich in der Lebensgeschichte mind. eine manische oder hypomane Episode, wird obligatorisch die Diagnose bipolar gegeben, auch wenn aktuell oder über die meiste Lebenszeit die depressiven Phasen dominieren. Hypomane oder depressive Phasen können dabei der manischen Episode vorausgegangen sein oder ihr folgen. Die Diagnose wird in Richtung des gravierenderen Störungsbildes korrigiert, wenn z. B. bei bestehender Zyklothymie eine vollsyndromale Episode depressiven, hypomanen oder manischen Typs auftritt. Ebenso wird die Bipolar-II-Diagnose in Bipolar-I geändert, sobald mind. eine manische Episode mit Vollkriterien festgestellt wird. (2) Die Symptomatik einer Manie oder Hypomanie kann durch den Konsum bestimmter psychotroper Substanzen (z. B. Stimulanzien) oder andere med. Krankheitsfaktoren simuliert werden. In diesem Fall kann eine substanz- oder medikamenteninduzierte bipolare Störung diagnostiziert werden. Umgekehrt wird eine bipolare Störung bei Substanzkonsumenten ggf. übersehen, da man die Symptome fälschlicherweise auf die Substanzwirkung zurückführt. (3) Die manische Symptomatik weist gewisse syndromale Überschneidungen bspw. mit der ADHS-Störung auf und wird deshalb im Kindes- und Jugendalter häufig unter- bzw. fehldiagnostiziert. (4) Die zahlreichen unterschiedlichen Verlaufsmuster (rapid, ultra rapid, gemischt) und die symptomatologischen «vielen Gesichter» der bipolaren Störungen erschweren eine klare Diagnosestellung und Differenzialdiagnostik. Neben der klassifikationalen Diagnostik (Diagnostik, kategoriale) werden in der klin. Praxis weitere valide diagn. Informationen für Indikation, Therapieplanung, Verlaufs- und Erfolgskontrolle benötigt. I. R. dieser dimensionalen Diagnostik zur Ausprägungs- und Schweregradbestimmung der b. Symptomatik ist dringend ein multimodales Vorgehen (Diagnostik, multimodale; Kombination versch. Erhebungsinstrumente unter Heranziehung mehrerer Datenquellen) zu empfehlen, da die betroffenen Pat. – insbes. im Hinblick auf die Manie – zu verzerrten Wahrnehmungen und Bewertungen (Bagatellisierung, Romantisierung) neigen. Für die unterschiedlichen Anwendungszwecke steht eine Anzahl dt.sprachiger dimensionaler Erhebungsverfahren zur Selbst- und Fremdbeurteilung zur Verfügung, deren Einsatz sich nicht allein auf Selbstbeurteilungsskalen beschränken sollte. Zur Fremdbeurteilung der manischen Symptomatik eignen sich bspw. die Bech Rafaelsen Mania Scale (BRMAS) oder die Young Mania Rating Scale (YMRS), für die depressive Symptomatik die gängigen Depressionsskalen (Beck-Depressions-Inventar (BDI-II), Allgemeine Depressionsskala ADS). Außerdem steht mit der Allgemeinen Depressions- und Manie-Skala (ADMS) ein Instrument für die kombinierte Erfassung manisch-depressiver Symptomatik zur Verfügung. Für die längerfristige Verlaufsmessung manisch-depressiver Episoden eignet sich die sog. Life-Chart-Methode (retro- und prospektiv), also eine grafische Verlaufsdokumentation auf der Zeitachse, mit der versch. Schweregradabstufungen und viele Krankheitsparameter erfasst werden können und die mittlerweile auch als elektronische Versionen zur Verfügung stehen. Kurzfristigere Veränderungen sollten mit Stimmungstagebüchern erfasst werden. Da bei bipolaren Störungen eine bes. ausgeprägte Komorbidität mit unterschiedlichen anderen psych. Störungen besteht, die für den Verlauf und die Prognose und damit für die Therapieplanung der Primärstörung von entscheidender Bedeutung sein können, sollte eine entspr. Breitbanddiagnostik mittels strukturierter klinischer Interviews erfolgen. bipolare Störungen, Psychotherapie, bipolare Störungen, Psychopharmakotherapie.