empirische Sozialforschung

 

[engl. empirical social inquiry/research; gr. εμπειρία (empeiria) Erfahrung], [FSE], bez. als Oberbegriff die Untersuchung soz. Sachverhalte mithilfe emp. Forschungsmethoden. Mit soz. Sachverhalten sind dabei Phänomene gemeint, die sich i. w. S. auf das menschliche Erleben, Verhalten und v. a. Zusammenleben beziehen und u. a. in Ps. und Soziologie sowie in der Politik-, Gesundheits-, Kommunikations- oder Erziehungswiss. behandelt werden. Neben disziplinär getrennter ist auch interdisziplinäre oder transdisziplinäre empirische Sozialforschung verbreitet. Bei emp. Forschungsmethoden handelt es sich um wissenschaftstheoretisch begründete Vorgehensweisen (Wissenschaftstheorie), mit deren Hilfe i. R. unterschiedlicher Forschungsstrategien (z. B. qual., quant. oder Mixed-Methods-Forschung) und Forschungsdesigns (z. B. exp. oder nicht exp. Studie) emp. Daten erhoben (Datenerhebungsverfahren) und analysiert (Datenanalysemethoden) werden, die zur Bearbeitung des jew. Forschungsproblems (z. B. Bildung oder Prüfung einer Theorie zu einem best. sozialen Phänomen) aussagekräftige Informationen über die soziale Erfahrungswirklichkeit liefern. Zur Qualitätssicherung der empirischen Sozialforschung werden definierte Gütekriterien (Gütekriterien qualitativer Forschungsprozesse) herangezogen, zudem werden Forschungsarbeiten einer Begutachtung durch Fachkollegen unterzogen (Peer-Review).

In der empirischen Sozialforschung wird die Gewinnung von wiss. Erkenntnissen über soziale Sachverhalte angestrebt, was neben der Sammlung emp. Befunde v. a. den Aufbau eines Bestandes an gesicherten Theorien beinhaltet. Während Theorien verallgemeinerbare Aussagen über eine große Menge an Fällen (Population) treffen, wird emp. meist nur eine mehr oder minder kleine Auswahl von Fällen untersucht. Bei den untersuchten Stichproben handelt es sich oft um Personenstichproben, aber auch Artefakte können i. R. der empirischen Sozialforschung betrachtet werden, sofern sie Rückschlüsse auf soz. Sachverhalte erlauben (z. B. Erhebung und Analyse von Hausordnungen, Fernsehprogrammen, Kinderzeichnungen). Insbes. wenn es sich bei den Untersuchungsobjekten um Menschen handelt, sind forschungsethische Richtlinien zu beachten, so muss die Untersuchungsteilnahme i. d. R. freiwillig und anonym erfolgen und darf die Pbn nicht schädigen (Forschungsethik).

Empirische Sozialforschung ist in ihrem Vorgehen (Forschungsprozess) sowie in ihren konkreten Ergebnissen (emp. Befunde, Theorien mit spezif. Erklärungsanspruch) abzugrenzen von der wiss. Untersuchung sozialer Phänomene mit nicht emp. Methoden, wie sie z. B. i. R. der Sozialphilosophie (gedankliche Analyse der Gesellschaft, geisteswissenschaftliche Psychologie) stattfindet. Die nicht emp. Bearbeitung psychol. Fragestellungen wird zuweilen mit dem neg. konnotierten Begriff der Lehnstuhl-Ps. (armchair psychology) belegt.

Zudem ist die empirische Sozialforschung zu differenzieren von erfahrungsgestütztem, aber nicht wiss. Erkenntnisgewinn über soziale Sachverhalte, wie er im Alltag stattfindet. Im Unterschied zum emp.-wiss. Vorgehen (meth. angeleitete und reflektierte Erhebung und Analyse von Daten) werden Erfahrungen im Alltag unsystematisch gesammelt (z. B. nicht auf der Basis aussagekräftiger Stichproben) und haben deswegen aus wiss. Sicht lediglich den Charakter von Bsp. oder anekdotischen Evidenzen. Zudem werden Alltagserfahrungen oft im Licht von Meinungen, Vorurteilen, Stereotypen usw. gedeutet. Erkenntnisgewinn im Alltag läuft auf die Bildung von Alltagswissen bzw. Alltagstheorien hinaus (z. B. Alltagspsychologie), die von wiss. Erkenntnissen und Theorien mehr oder minder stark abweichen (z. B. Laienmeinung über Geschlechtsunterschiede vs. wiss. Kenntnisstand der Geschlechterforschung). Da die Untersuchungsgegenstände der empirischen Sozialforschung oft alltagsnah sind, stehen human- und sozialwiss. Theorien viel stärker in der öffentlichen Kritik oder im Vergleich zu Alltagstheorien als das in anderen (z. B. natur- oder technikwiss.) Forschungsfeldern der Fall ist. Empirische Sozialforschung hat deswegen in der Öffentlichkeit z. T. ein Legitimationsproblem: Wenn ihre Befunde mit dem Alltagswissen übereinstimmen, läuft sie Gefahr, als banal und überflüssig abgetan zu werden. Wenn ihre Befunde dagegen dem Alltagswissen widersprechen, wird sie angezweifelt. Wenn sie sehr differenzierte und komplexe Ergebnisse liefert, wird sie nicht selten als abgehoben und nutzlos wahrgenommen. Empirische Sozialforschung steht somit vor der Herausforderung, ihre Arbeitsweisen und Erkenntnisse nicht nur innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft zu diskutieren, sondern auch angemessen der Öffentlichkeit zu vermitteln.

Generell orientiert sich die Wissenschaftsgemeinschaft (scientific community) an dem global akzeptierten säkularen Wertesystem der Menschenrechte. Dabei sieht sich die empirische Sozialforschung in der Verantwortung, durch ihre Erkenntnisse Voraussetzungen z. B. zum Abbau von soz. Ungleichheit, Benachteiligung, Gewalt oder Diskriminierung zu schaffen. Wissenschafts- und erkenntnistheoretisch (Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie) kontrovers diskutiert wird die Frage, in welcher Weise der Erkenntnisprozess zu gestalten ist, damit empirische Sozialforschung am besten zur Lösung sozialer Probleme und zu gesellschaftlichen Verbesserungen beitragen kann. Gemäß Kritischem Rationalismus sind einzelne soz. Fragestellungen zu bearbeiten, Theorien zu bilden und obj. (Objektivität) an der Erfahrungswirklichkeit zu prüfen. Andere Positionen widersprechen dem Objektivitätsanspruch und fordern, dass die Forschenden sich ausdrücklich in den Dienst benachteiligter Bevölkerungsgruppen stellen und nach Prinzipien der Parteilichkeit arbeiten, dass sie die herrschenden Verhältnisse grundsätzlich infrage stellen und gezielt solches Wissen produzieren, das emanzipatorisch wirkt. In der Soziologie wurden diese Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle der Forschenden und der Bedeutung von Werten u. a. im Werturteilsstreit sowie im Positivismusstreit diskutiert.

Hinsichtlich der in der empirischen Sozialforschung verfolgten Forschungsstrategien unterscheidet man quant. (Datenerhebungsverfahren, Datenanalysemethoden, quantitative, Statistik), qual. Verfahren (Datenanalysemethoden, qualitativeQualitative Forschungsmethoden) sowie Mixed-Methods-Forschung (Forschungsprozess, Mixed-Methods-Ansatz).

Wenn in der empirischen Sozialforschung eine Studie v. a. darauf ausgerichtet ist, zum wiss. Kenntnisstand in einem best. Forschungsbereich beizutragen, handelt es sich um sog. Grundlagenforschung. Ergebnisse der Grundlagenforschung sind zunächst innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft von Interesse. Sie werden über Fachzeitschriften und Konferenzen national und internat. unter Forschenden ausgetauscht und regen weitere Forschungsaktivitäten an. Das Ziel der Anwendungsforschung ist nicht allg. wiss. Erkenntnisgewinn, sondern die Beantwortung praxisorientierter Fragestellungen. Hier handelt es sich oft um Auftragsforschung, d. h. von Praxisvertretern wird die Durchführung einer entspr. angewandten human- oder sozialwiss. Studie zur Lösung eines Problems oder Klärung einer Frage in Auftrag gegeben (z. B. Marktforschung, psychologische, Evaluation). Die Befunde einer angewandten Studie sind direkt praxisbezogen und sollen bei Entscheidungen im Praxisfeld helfen (z. B. Weiterführung, Veränderung oder Einstellung einer Maßnahme). In der Auftragsforschung besteht eine bes. Herausforderung darin, dass die Forschenden einerseits als Dienstleistende auftreten, gleichzeitig aber ihre wiss. Unabhängigkeit wahren müssen, denn theoretisch und/oder emp. nicht haltbare Gefälligkeitsergebnisse für den Geldgeber zu produzieren, widerspricht der Forschungsethik.

Referenzen und vertiefende Literatur

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