Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung (GPB)
[engl. risk assessment of psychic strain], [AO], ein obj., konsensorientierter Analyseansatz zur Identifizierung und Bewertung kritischer Belastungskombinationen am Arbeitsplatz (Michel et al., 2009; Michel et al., 2011; Sonntag et al., 2012; Belastung, psychische, Stress am Arbeitsplatz).
Objektiver Zugang: Im Ggs. zu der üblichen Erfassung der subj. Wahrnehmung beanspruchungsrelevanter Tätigkeitsmerkmale durch den Stelleninhaber mittels standardisierter Fragebogen, liegt mit der GPB ein obj. Zugang vor (Objektivität). Damit sollen der sog. self-report bias, d. h. die Verzerrung der Bewertung von Arbeitsbedingungen durch das Individuum (soziale Erwünschtheit), und der sog. common-method bias vermieden werden. Letzterer Effekt tritt auf, wenn sowohl Tätigkeitsmerkmale als auch die psych. Beanspruchungsfolgen mit dem gleichen Verfahren erfasst werden. Durch den Einsatz eines Analyseteams (bestehend aus Arbeitsmediziner, Arbeitspsychologen, Vorgesetzte, Fachreferent und Betriebsrat) wird mit dem GPB die psych. Belastung am Arbeitsplatz fremdeingeschätzt und dadurch obj. erfasst. Zunächst wird das Analyseteam (von einem Arbeitspsychologen) in der Handhabung des Instruments geschult (Beurteilertraining). In der folg. Beobachtungsphase beobachtet jedes Mitglied des Analyseteams die ausgewählten Arbeitsplätze direkt vor Ort. Im Anschluss daran erfolgt die Einstufung, zunächst durch jedes Mitglied des Analyseteams, danach mit dem Analyseteam (Konsensphase).
Konsensorientierung: Um die Objektivität der Einschätzungen zu gewährleisten, werden die endgültigen Bewertungen des Analyseteams im Konsens getroffen. Hierfür werden in der Konsensphase die versch. Perspektiven und Gesichtspunkte jedes Mitgliedes so lange erörtert werden, bis eine gemeinsame Bewertung erreicht ist (Beobachtungsfehler, Beurteilerakkuratheit, Beurteilerübereinstimmung, Beurteilerübereinstimmung, Verbesserung der).
Kritische Kombinationen: Theoretischer Hintergrund ist das aus der Belastungs- und Stressforschung bekannte Anforderungs-Kontrollmodell (Demand-Control-(Support-)Modell) von Karasek (1979). Dieses Modell stellt zwei Dimensionen gegenüber: Arbeitsanforderungen (job demand) einerseits, Handlungs- und Entscheidungsspielraum (decision latitude) andererseits. Dem Modell zufolge nimmt psych. Fehlbeanspruchung mit steigenden Anforderungen (z. B. Aufgabenkomplexität) bei gleichzeitig sinkendem Handlungs- und Entscheidungsspielraum (z. B. geringes Ausmaß an Autonomie bei zu treffenden Entscheidungen) zu. Eine solche kritische Kombination der Belastungsfaktoren bedingt psych. Fehlbeanspruchung und stellt ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für das Organisationsmitglied dar. I. R. der Entwicklung der GPB wurde das Modell um Dimensionen erweitert, die sich in arbeits- und organisationspsychol. Forschung als relevant für die Erfassung psych. Belastung am Arbeitsplatz gezeigt haben. Die GPB umfasst 10 Anforderungsdimensionen, welche teilweise auf erprobten Skalen von Arbeitsanalyseverfahren (Arbeitsanalyse) und selbstentwickelten Skalen basieren: Arbeitskomplexität (Ak), Handlungsspielraum (Hs), Variabilität (Va), Zeitspielraum (Zs), Verantwortungsumfang (Vu), Arbeitsunterbrechungen (Au), Konzentrationserfordernisse (Ke), Kooperationserfordernisse (Koop), Kundenorientierung (Ko), Emotionsregulation (Er).
Zur Operationalisierung der Skalen stehen 61 Items zur Verfügung, die je nach den spezif. Gegebenheiten des Unternehmens zus.gestellt/angepasst werden können. Die Einstufung erfolgt auf einer fünfstufigen Likert-Skala (nie – selten – manchmal – häufig – ständig). Die Auswertung und Ermittlung kritischer Kombinationen psych. Belastungen erfolgt über ein EDV-gestütztes Tool. Die GPB setzt sich aus drei Teilen zus. Im ersten Abschnitt werden allg. stellenbezogene Daten (z. B. Einarbeitungszeit, Kompetenzen) erfasst. Die in Teil B aufgeführten Inhalte und Verrichtungen werden i. S. eines Aufgabeninventars (task analysis inventory) erfasst und nach Häufigkeit und Bedeutsamkeit beurteilt. Diese aufgabenspezif. Operationalisierung dient dazu, potenziell kritische Belastungskombinationen fachinhaltlich präzise zu beschreiben und einzelnen Aufgaben zweifelsfrei zuzuordnen. Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nach dem Arbeitsschutzgesetz.