Gesprächspsychotherapie

 

[KLI], Internat. lautet die Bez. dieses Psychotherapieverfahrens Personzentrierte Psychotherapie [engl.  person-centered psychotherapy]. Den Begriff Gesprächspsychotherapie gibt es nur in Dt., er wurde in den 1960er-Jahren aus berufspolitischen Gründen von R. Tausch vorgeschlagen, als er das Verfahren hier einführte. In Dt. zählt die Gesprächspsychotherapie zu den vier vom Wissenschaftlichen Beirat im Psychotherapiegesetz zur Approbation anerkannten Psychotherapieverfahren. In Österreich und der Schweiz besteht eine ähnliche, wenn nicht ausgeprägtere Anerkennung und Verbreitung; in der DDR war die Gesprächspsychotherapie das vorherrschende Psychotherapieverfahren. Der amerik. Psychologe Carl Rogers entwickelte das Verfahren in den 1940er- und 1950er-Jahren an der Universität Chicago zus. mit der Einführung der empirischen Psychotherapieforschung. Diese Pioniertaten gelten, zus. mit A. Maslows Werk, zugleich als Begründung der Humanistischen Ps. mit ihrem pos., entwicklungsorientierten und auf Sinnerfahrung ausgerichteten Menschenbild. Sehr schnell wurden die Methoden der Gesprächspsychotherapie auf angrenzende Anwendungsgebiete wie Gruppentherapie, Kinder- (als Spieltherapie), Paartherapie und Familientherapie sowie in diverse psychosoziale und päd. Praxisfelder übertragen.

Krankheitsverständnis: Symptome und seelische Probleme werden als Folge innerer Spannungen, ambivalenter Motivationen und eines unklaren Selbstbildes aufgefasst. Das Selbst der Person ist gespalten (Fachbegriff: inkongruent). Sie sucht Bindung und sie formt unbewusst ein Selbstbild, das die Wertschätzung bedeutender anderer findet, insbes. die der Eltern. Zugleich erlebt die Person in ihrem Alltag ständig Gefühle, Motivationen, Gedanken und Verhaltensimpulse (Fachbegriff: organismische Erfahrungen), die nicht voll zu diesem Selbstbild passen (z. B. Risikofreude, Schwäche, Machtwille). Das ist normal und geschieht fortlaufend im Fluss der Wahrnehmungen. Krankheitswertig wird Inkongruenz, wenn die Person ihre Erfahrungen in Teilen abspaltet, das bedeutet, sie nimmt ihre Gefühle nicht mehr korrekt wahr, weil sie für das Selbstbild zu bedrohlich wären (z. B. das Erleben von Aggression hätte die Wertschätzung der Eltern stark beschädigt, nach Jahrzehnten subtiler Botschaften dieser Art erlebt die Person in sich keine Aggression); außerdem, wenn sie ihr Selbstbild nicht mehr den organismischen Erfahrungen auf eine Weise anpassen kann, dass das Bedürfnis nach Bindung und die organismischen Erfahrungen in einem stimmigen Selbstbild versöhnt werden können. Das Selbstbild ist dann zu starr, Veränderungen bedrohen seine Struktur zu grundlegend (z. B. bei rigiden moralischen, religiösen oder politischen Einstellungen). Idealerweise wertschätzen Eltern das Kind so, wie es ist, mit dem vollen Spektrum seiner Existenz, tatsächlich kann sich diese Wertschätzung aber immer nur auf Teile der kindlichen Erfahrungswelt richten, ein oft unbewusster und subtiler Prozess: «Nur wenn du so und so bist, wertschätze ich dich.» Je einseitiger die Person solche bedingte Wertschätzung erfährt, desto schädigender entsteht Inkongruenz zw. dem Selbstbild, das sich an den Bedingungen für Wertschätzung ausrichtet, und den organismischen Erfahrungen. Es kommt zu inneren Zerreißproben und einem Abspalten von Erleben. Die Person erlebt Inkongruenz als innere Spannung, Unzufriedenheit, sich selbst oft nicht verstehen können, Unklarheit über Lebensziele, Ambivalenzen in Beziehungen, körperl. Stresssymptome und in Form umschriebener psych. Symptome wie AngstDepression usw. Jüngere theoretische Überlegungen der Gesprächspsychotherapie beschreiben Inkongruenz auf der Grundlage der Schematheorie als konfligierende sozial-emotionale Schemata (Schematherapie).

Behandlungstheorie: Träger des Therapiegeschehens sind Face-to-Face-Gespräche, in denen die Patientenperson (Pt) Erfahrungen exploriert, die in Zshg. mit ihren Belastungen stehen könnten. Die Therapeutenperson (Tp) lenkt und bewertet diese Erfahrungen nicht, sie schafft – dies ist der Kernpunkt – ein Gesprächsklima mit Abwesenheit von jeglicher Bewertung. Sie zeigt unconditional positive regard (UPR) ([engl.] unbedingte pos. Wertschätzung). Diese bedingungsfreie Wertschätzung eines bedeutenden anderen, der Tp, wirkt den Bedingungen für Wertschätzung entgegen, wie sie zumeist den Familienalltag subtil bestimmen. Die Pt kann sich ohne Bedrohung durch Bewertungen dem Fluss ihrer organismischen Erfahrung zuwenden. Das sind im Therapiegeschehen meist Gefühle, Motive oder Gedanken im Zshg. mit der Problemexploration der Pt (z. B. Wie verstehe ich mein widersprüchliches Verhalten/Gefühle in einer best. Situation? Was steht hinter meiner Angst, Wut, Scham? Was blockiert mich/nimmt mir Selbstkontrolle?). Durch UPR hilft die Tp der Pt, ein breites Spektrum ihrer Erfahrungsfähigkeit wiederherzustellen. Diese ist bei inkongruenten Personen eingeschränkt: Erfahrungen werden verzerrt oder abgespalten (z. B. die Pt nähme freundliche Zuwendung als Bestechung, krasses Übergangenwerden als Vergesslichkeit wahr). Die Wahrnehmung und emot. Verarbeitung von Reizen folgt starren Schemata. In einer bewertungsfreien Beziehung zur Tp und auf dem Weg zur Kongruenz erlebt die Pt immer mehr Gefühle, Assoziationen, neue Aspekte. Dies geschieht oft während des Therapiegesprächs: Die Pt erlebt neue Erfahrungen in sich und kann diese dann auch besser organisieren. Ihr Erleben wird durchlässiger. Ihre sozial-emot. Schemata differenzieren und verändern sich leichter.

Behandlungsmethoden: Die Behandlungsmethoden der Gesprächspsychotherapie verfolgen das Ziel, die Fähigkeit zum emot. Erleben zu erweitern. Die Pt soll ihre organismischen Erfahrungen zum Bezugspunkt nehmen können, wenn sie sich den Herausforderungen der sozialen Umwelt stellt. (1) Die empathische Reaktion [engl. empathic response]: Die Tp fasst die Erfahrungen der Pt in Worte, wenn diese über ihre Probleme spricht. Dabei erfasst sie das hinter dem Offenkundigen subtil Mitschwingende, welches die Pt selbst noch nicht in Worte fassen kann: Erfahrungen, die gleichsam am Rande der Wahrnehmungsschwelle liegen. Das sind z. B. Schambesetztes, Werte oder Motive, die die Selbstschemata der Pt verändern würden, die aber nicht mehr voll abgewehrt und dadurch für die Tp wahrnehmbar werden. Spricht die Tp diese Erfahrungen bewertungs- und bedrohungsfrei an, kann die Pt sie oft als wahr und als zu ihr gehörend identifizieren. Der dt. Fachbegriff für diese Methode ist Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE). Die Methode ist nicht zu verwechseln mit empathischen Paraphrasierungen, die das vom Pt offenkundig Gesagte einfühlsam zus.fassen, um die therap. Beziehung zu fördern; gleichfalls nicht mit Interpretationen, die Sinnzusammenhänge auf kogn. Ebene vorschlagen und ein kogn. Selbstverstehen der Pt fördern sollen. Empathische Reaktionen erfassen manifest im Hier und Jetzt mitschwingende Erlebnisinhalte der Pt an der Schwelle zur Gewahrwerdung. Die Schwierigkeit dieser Intervention wird oft unterschätzt. Sie ist der Königsweg jeder personzentrierten Arbeit und wird auch bei den folg. Methoden immer begleitend eingesetzt. (2) Das interaktionelle Vorgehen: Die Tp fasst ihre eigenen Erfahrungen in Worte oder fördert solches bei Mitgliedern einer Gruppentherapie. Die Pt erhält Rückmeldungen, was sie bei anderen auslöst. Die Fachbegriffe lauten Kongruenz [engl. congruence]; widerspruchsfreies, aufrichtiges Kommunizieren und Selbstoffenbarung [engl. self-disclosure; das Mitteilen eigener Gefühle]. Es folgt dann ein vertiefendes und durch zusätzliche empathische Reaktionen möglichst bedrohungsarmes Gespräch über die unterschiedlichen Erfahrungen und ihre Auslöser durch das Pt-Verhalten. Dies modifiziert das Selbsterleben der Pt. Sozial-emot. Schemata werden durch unmittelbare neue Beziehungserfahrungen direkt verändert. Bedeutende Vertreter sind u. a. J. Finke, M. Cooper, D. Mearns. Gruppentherapiekonzepte gibt es u. a. von G. Lietaer, P. Schmid. (3) Focusing ([engl.] Fokussierung). Den Pt wird vorgeschlagen, ihre Wahrnehmung den organismischen Erfahrungen in einem entspannten Trance-Zustand zuzuwenden. Dies kann gesprächsbegleitend im Sitzen erfolgen, oft wird eine Tranceinduktion im Liegen vorgeschlagen. Es folgt eine von der Tp begleitete, aber meist selbstgesteuerte Fantasiereise, bei der die Pt Repräsentationen von Problemen, Ereignissen, Personen, Traumbildern, sprachlichen Metaphern usw. mit dem Körpererleben abgleichen und Veränderungen der organismischen Erfahrungen nachspürt. Eine noch unklare organismische Erfahrung ([engl.  felt sense]; z. B. ein Druck auf den Schultern) kann so mit einem Problemthema (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Paarbeziehung) verbunden und bei Passung eine körperliche Veränderung [engl. felt shift] erfahrbar werden (z. B. Druck ist weg, oder Hände werden warm). Begründer ist Rogers Mitarbeiter E. Gendlin. (4) Das emotions-fokussierte Vorgehen: Emot. Schemata werden durch Übungen differenziert, die die Tp vorschlägt. Ambivalente Gefühle, Motive, Selbstanteile, manchmal auch bedeutende andere Personen werden jew. durch leere Stühle oder Symbolgegenstände dargestellt. Dann wird die Pt unterstützt, diese in ein Gespräch miteinander zu bringen, und zwar szenisch, indem die Pt sich jew. auf den Stuhl setzt oder hinter den Gegenstand stellt. Dieses Vorgehen modifiziert emot. Schemata durch sehr intensive, quasi-reale Interaktionserfahrungen. Hauptvertreter sind u. a. R. Elliott, L. Greenberg, G. Lietaer, G. Vanaershot. Diese berichten auch die bislang bedeutendsten Konzepte und Forschungen zum schematheoretischen Verständnis des gesprächstherap. Geschehens. (5) Kreative Medien: Zumeist bildgebendes Gestalten (z. B. Malen, Töpfern) von Problemthemen, bedeutenden Erfahrungsfeldern, Traumbildern oder realen Situationen aktiviert die organismischen Erfahrungen der Pt. Die zusätzliche Ebene neben der Sprache erweitert die Erfahrungsmöglichkeiten und stiftet neue Perspektiven für Gespräche. Vertreterin ist u. a. N. Rogers. (6) Prä-Therapie: Psychiatr. Pt, die über ein Gesprächsangebot oder übliche Beziehungsaufnahmen wie z. B. Blickkontakt oder Begrüßung nicht erreicht werden können, werden mit spiegelnden sprachlichen Äußerungen oder körperlichen Aktionen der Tp konfrontiert (Fachbegriff: [engl. contact reflexions]). Z. B. benennt die Tp Real-Ereignisse wie «Die Sonne scheint herein», «Ihre Augen werden feucht». Oder sie setzt sich im Stationsgruppenraum der Pt gegenüber auf die andere Seite und spiegelt deren körperl. Ausdruckssignale, so streckt sie z. B. ein Bein weg, wenn die Pt das auch tut. Oft wird so überhaupt eine Beziehungsaufnahme durch die Pt erreicht. Begründer ist G. Prouty, Vertreter ist u. a. D. van Werde. (7) Spieltherapie: Kindern bis zum Alter von ca. 10–12 Jahren wird ein reich ausgestattetes Spielzimmer angeboten. Wenn sie dort selbstgesteuert spielen, aktualisieren sie ihre Problemthemen durch gestaltende (z. B. Malen, Bauen) oder szenische Darstellung (z. B. Puppenspiel, Tierfigurenspiel). Die Behandlungstheorie der Spieltherapie schlägt vor, dass die Beschäftigung des Kindes mit sich selbst und mit seinem sozialen Umfeld vornehmlich über von ihm selbst initiierte Spielprozesse erfolgt. Auch sein Beziehungsangebot an die Tp zeigt die Beziehungsschemata, nach denen es sich im Alltag verhält. Das bewertungsfreie Beziehungsangebot der Tp ermöglicht dem Kind nun neue Beziehungserfahrungen. Die Tp kommentiert das Geschehen dazu paraphrasierend und mit empathischen Reaktionen zu den Rollenspielfiguren oder außerhalb des Rollenspiels zum Kind selbst. Beim interaktionellen Vorgehen spielt die Tp gemeinsam mit dem Kind. Sie überlässt diesem weiterhin die Führung und richtet ihre Spielhandlungen an denen des Kindes aus: Sie tut etwas Ähnliches, das dem Geschehen aber keine neue Richtung gibt (Fachbegriff: Interaktionsresonanz). Während des Spiels kann das Kind seine sozial-emot. Erfahrung organisieren und es erlebt neue Beziehungsschemata im Zusammenspiel mit der Tp. Begründerin ist V. Axline, Vertreter sind u. a. G. Landreth und M. Behr. (8) Jugendtherapie: Je älter Jugendliche sind, desto eher nähert sich der Therapieprozess dem Geschehen der Gesprächspsychotherapie an. Jüngeren Jugendlichen hilft im Gespräch oft ein zeitgleiches Brettspiel, damit können sie ihre Nähe zur Tp und zum Problem regulieren. Die Glaubwürdigkeit der Tp ist für sie von überragender Bedeutung, sie benötigen eine authentische, sich selbst einbringende Tp: Neben empathischen Reaktionen suchen sie auch Meinungen, Auseinandersetzung und persönliche Erfahrungen der Tp. Auch auf kreative Medien oder die Methoden des emotionsfokussierten Vorgehens sprechen Jugendliche sehr gut an. Vertreter sind u. a. S. Weinberger und M. Behr.

Indikation: Die Persönlichkeits- und Behandlungstheorie der Gesprächspsychotherapie schlug in ihrer Gründungszeit zunächst vor, als ein Breitbandverfahren unabhängig von bes. Symptomausprägungen auf psychostruktureller Ebene zu wirken: Ein gestörtes, inkongruentes Selbsterleben wird klarer, bewusster und widerspruchsfreier, als Folge davon lösen sich Symptome auf. Seit dem späten 20. Jhd. gibt es nun auch diverse störungsspezif. Behandlungskonzepte und eine störungsspezif. empirische Wirksamkeitsforschung. Alle großen Symptomgruppen können erfolgreich behandelt werden. Bei psychiatrischen Krankheitsbildern kann eine begleitende Gesprächspsychotherapie den Pt zu einem entlastenden Verständnis ihrer Selbst und zur Bewältigung der Folgen ihrer Erkrankung verhelfen. Gesprächspsychotherapie ist vor allem dann indiziert, wenn Pt zumindest in Ansätzen erleben, dass ihre Symptome in einer Wechselbeziehung zu grundlegenden Fragen ihrer Lebensführung, ihres Selbstbildes und zu existenziellen Themen stehen. In der Behandlungspraxis wird Gesprächspsychotherapie häufig mit anderen, insbes. verhaltenstherapeutischen Methoden ergänzt, insbes. dann, wenn neben den grundlegenderen Themen eine bes. rasche Symptomveränderung drängt.

Wirksamkeit: Grawe, für die Erwachsenenpsychoth., und Beelmann, für die Kinder- und Jugendlichenpsychoth., bez. aufgrund von vergleichenden Psychoth.-Wirksamkeitsstudien die Gesprächspsychotherapie als das neben der Verhaltenstherapie am erfolgreichsten evaluierte Psychoth.verfahren. Die Wirksamkeitsscores liegen ca. zw. ,60 und 1,30 Standardabweichungen (Cohens d), im Mittel ca. bei ,80 bis ,90, damit etwas niedriger als bei der Verhaltenstherapie, dies wird aber oft auf die Evaluationsmethode zurückgeführt, die für verhaltenstherap. Programme besser passt als für psychostrukturell ansetzende Verfahren.

Vernetzung: Größter Verband ist in Dt. die Gesellschaft für personzentrierte Psychotherapie und Beratung [www.gwg-ev.org], in Österreich die Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche klientenzentrierte Psychotherapie [www.oegwg.at], in der Schweiz die Schweizer Gesellschaft für den personzentrierten Ansatz [www.pca-acp.ch]. Internat. die World Association for Person-Centered and Experiential Psychotherapy and Counselling [www.pce-world.org]. Die bedeutendsten dt.sprachigen Fachzeitschriften sind PERSON und Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, engl.sprachig Person-centered and experiential Psychotherapies.

Referenzen und vertiefende Literatur

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