Klassifikation psychischer Störungen
[engl. classification of mental disorders], [KLI], Klassifikation bedeutet eine Einteilung oder Einordnung von Phänomenen, die durch best. gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind, in ein nach Klassen gegliedertes System. Eine Klassifikation psychischer Störungen hat zum Ziel, nachvollziehbare und überprüfbare Ableitung von Diagnosen zu ermöglichen sowie vorliegende Fälle zu präzisieren, zu differenzieren und zu validieren. Hierdurch soll eine verbesserte und eindeutige Kommunikation in Forschung und Praxis, die Unterstützung von Entscheidungsprozessen (z. B. bei der Indikationsstellung, Therapieplanung, Prognosestellung oder der Spezifikation von Kontraindikationen), die Erleichterung der stat. Aufbereitung epidemiologischer Daten (Epidemiologie), der Ermittlung von Vorsorge- und Versorgungsbedarf sowie eine Unterstützung versicherungsrechtlicher, abrechnungsbezogener und juristischer Belange erreicht werden. Insgesamt kann bei Klassifikationen zunächst ganz grundsätzlich zw. kategorialen, dimensionalen und typologischen Vorgehensweisen unterschieden werden. Kategoriale Vorgehensweisen nehmen dabei qual. unterschiedliche Phänomene an, die sich inhaltlich eindeutig voneinander abgrenzen lassen und durch klare Kriterien festgelegt sind. Dimensionale Vorgehensweisen gehen von einem Kontinuum des interessierenden Merkmals aus und stellen (meist mehrdimensional) die Frage nach dem differenzierten Ausprägungsgrad bzw. der Häufigkeit seines Auftretens. Typologische Vorgehensweisen gehen von prototypischer Konstellation versch. Merkmale aus, denen einzelne Fälle mehr oder weniger genau entsprechen – konstituieren sich i. Ggs. zur kategorialen Vorgehensweise jedoch nicht durch klare, notwendige und hinreichende Kriterien.
Die Geschichte der Klassifikation psych, Störungen reicht weit zurück. Bis Mitte des 20. Jhd. existierten jedoch unzählige verschiedene Klassifikationssysteme, die jew. unterschiedliche Einteilungskriterien, Beobachtungsschwerpunkte, Gewichtungen und Formulierungen in den Vordergrund stellten und sich zudem auf unterschiedliche ätiologische Ansätze gründeten – und somit weitgehend inkompatibel waren bzw. nicht zu verlässlichen und übereinstimmenden Ergebnissen führten. Als Wendepunkt dieser Problematik kann die Einführung sog. deskriptiver Klassifikationssysteme (um ca. 1980) genannt werden. Diese erfassen psych. Störungen über eine Beschreibung von Symptomkonstellationen, klar definierte Ein- und Ausschlusskriterien, Intensitätsangaben sowie Angaben zur Häufigkeit bzw. Dauer einer Symptomatik. Zudem werden Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln formuliert. Sie beziehen sich somit auf klar beobachtbare Merkmale einer Störung und beziehen keine oder nur wenige theoretische Überlegungen zu Ätiologie und Pathogenese mit ein. Dem Komorbiditätsprinzip (Komorbidität) sowie dem Multimorbiditätsprinzip wird insofern Rechnung getragen, als die Komplexität konkreter Fälle durch versch. Betrachtungsebenen abgebildet werden kann. Aktuelle deskriptive Klassifikationssysteme der klin. Forschung und Praxis sind die Internationale Klassifikation der Krankheiten der World Health Organization (International Classification of Diseases (ICD), aktuell in der 10. Revision) sowie das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), aktuell in der 5. Revision).
Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD): Die ICD der Weltgesundheitsorganisation dient der weltweiten Vereinheitlichung der Beschreibung und Interpretation psych. Störungen. Sie ist das zentrale, diagn. Klassifikationssystem der Med. und bildet die Grundlage bei der Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten sowie stationären Versorgung. In Dt. bildet dabei die ICD-10-GM (German Modification) die aktuelle amtliche Grundlage. Das Kernstück der ICD bildet eine ausführliche Systematik, welche in 22 Kapiteln den Bereich aller Krankheiten abdeckt. Jedes Kapitel umfasst dabei einen Codebereich, der durch einen oder mehrere Buchstaben gekennzeichnet ist. Einzelne Kapitel können weiter in einzelne Gruppen/Bereiche und schließlich in (Sub-)Kategorien unterteilt werden. Jede Diagnose kann somit durch einen Buchstaben sowie einen drei- bis fünfstelligen Code beschrieben werden, wobei zusätzlich Ein- und Ausschlussvermerke, Hinweise zu Differentialdiagnosen etc. vorhanden sind. Im ICD werden psych. Störungen im Kapitel F zus.gefasst, wobei auf Achse I u. a. psych. Störungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Störungen durch psychotrope Substanzen abgebildet werden. Welche diagn. Gruppen/Bereiche hierbei genau erfasst werden, ist in Tab. 1 dargestellt. Eine Spezifikation/Differenzierung der Diagnose ist durch die dritte bis fünfte Ziffer möglich und kann in Anhang I eingesehen werden. Achse II erlaubt gleichzeitig eine Beurteilung der sozialen Funktionseinschränkungen auf Ebene der Selbstfürsorge (Körperhygiene, Kleidung, Ernährung), auf Ebene des Berufs (Arbeit, Studium, Hausarbeit), auf Ebene von Familie und Haushalt (Interaktion mit dem Partner, den Eltern, den Kindern oder anderen Verwandten), auf Ebene weiterer sozialer Kontexte (Gemeinde, soziale Aktivitäten) sowie auf Globalebene. Achse III erlaubt eine Erfassung der psychosozialen Belastungsfaktoren aus den Bereichen Kindheitserlebnisse, Erziehung und Bildung, Familie und primäre Bezugsgruppe, soziales Umfeld, Wohnsituation und finanzielle Situation, Berufstätigkeit, Umweltbelastungen, psychosoziale oder juristische Probleme, Krankheit oder Behinderung in der Familie sowie Lebensführung und -bewältigung. [http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/].
Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen (DSM): Das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association wird vorrangig in den USA eingesetzt und findet sich in vielen engl.sprachigen Lehr- und Handbüchern der Klinischen Ps. sowie in der klin. Forschung. Dabei war es lange Zeit (bis einschließlich DSM-IV) für seinen multiaxialen Ansatz bekannt, in dessen Rahmen Fälle auf 5 Achsen und somit auf versch. Ebenen beschrieben wurden. Die einzelnen Achsen umfassten dabei folg. Aspekte: Auf Achse I wurden alle klin. Störungen und andere klin. relevante Probleme außer den Persönlichkeitsstörungen und geistigen Behinderungen zus.gefasst. Auf Achse II wurden Persönlichkeitsstörungen (inkl. auffallender, unangepasster Persönlichkeitszüge) und geistige Behinderungen erfasst. Durch eine Erfassung dieser Aspekte auf einer separaten Achse sollte vermieden werden, dass diese Aspekte – z. B. bei Vorliegen einer auffälligen Achse-I-Störung – übersehen werden. Auf Achse III wurden zusätzliche med. Krankheitsfaktoren erfasst, die für den Umgang mit und das Verständnis von der psych. Störung des Betroffenen relevant sind. Dabei wurde angenommen, dass die medizinischen Krankheitsfaktoren auf unterschiedliche Weise (ätiologische Ursache für die Ausbildung oder Verschlechterung einer psych. Störung sein oder aber in eher unklarer Beziehung zu dieser) verbunden sein können. Achse IV erfasste schließlich alle psychosozialen und umgebungsbedingten Probleme, die Diagnose, Therapie oder Prognose einer Achse-I- oder Achse-II-Störung beeinflussen können. Zuletzt wurde auf Achse V das psych., soziale und berufliche Funktionsniveau mithilfe der Global Assessment of Functioning Scale (GAF) erfasst, sodass eine umfassende Therapieplanung, Wirksamkeitsmessung und Prognosestellung ermöglicht wurde. Für die aktuelle Version (DSM-5) wird jedoch auf ein nicht axiales Beurteilungssystem zurückgegriffen, wobei die Störungsbilder von ehemals Achse I, II und III verbunden werden und im Fokus stehen. Eine zusätzliche Klassifikation psychosozialer und umgebungsbedingter Probleme (ehemals Achse IV) sowie des globalen Funktionsniveaus durch die Global Assessment of Functioning Scale (ehemals Achse V) wird hingegen nicht mehr vorgenommen. Stattdessen werden – bei Bedarf – entspr. ICD-Codierungen bzw. die WHO Disability Assessment Schedule (WHODAS) angewandt. Zudem wurden eine Neuanordnung der Störungsklassen sowie einzelner Störungen und erstmalig auch eine Anpassung der Diagnosen an bestehende ICD-Codes vorgenommen. Hierbei muss jedoch angemerkt werden, dass noch nicht immer ein entspr. ICD-Code für einzelne Diagnosen oder Diagnosegruppen vorliegt – die Zuordnung zu bestehenden Codes kann daher in einzelnen Fällen oft nur für Subtypen oder Zusatzcodierungen vorgenommen werden. Die Hauptkategorien des DSM-5 sind in Tab. 2 dargestellt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird an dieser Stelle auf eine Darstellung aller DSM-5-Einzel-Codes und Diagnosen innerhalb der 22 Haupt-Kategorien verzichtet – die Entsprechung einzelner ICD-und DSM-5-Diagnosen können den Detailtabellen in den jew. Einzelstichwörtern entnommen werden. Dabei sind jedoch nur diejenigen DSM-5-Diagnosen in den Tab. aufgeführt, die eine direkte Code-Entsprechung ausweisen. DSM-5-Diagnosen, die inhaltlich einer ICD-Diagnose entsprechen, jedoch unter einem anderen, nicht dem ICD-Code entspr. Code (und somit an anderer Stelle) aufgeführt sind, werden in den Detailtabellen nicht aufgeführt.