Prozessdissoziation

 

[engl. process dissociation; lat. processus Fortgang, dissociare trennen], [KOG], ein zentrales Problem kognitionspsychol. Forschung ist die Messung kogn. Prozesse (Kognition), die beobachtbaren kogn. Leistungen zugrunde liegen. Lange dominierte die Idee, dass jeder kogn. Prozess über geeignet gewählte Aufgaben hinreichend genau erfasst werden kann. In der Gedächtnisps. (Gedächtnis) nahm man bspw. an, dass bewusste Erinnerungen (sog. kontrollierte Gedächtnisprozesse) über Leistungen in direkten Gedächtnistests wie z. B. der Reproduktionsaufgabe oder der Rekognitionsaufgabe gemessen werden können, unbewusste bzw. automatische Gedächtnisprozesse dagegen über indirekte Gedächtnistests wie etwa die Wortanfangsergänzungsaufgabe (Richardson-Klavehn & Bjork, 1988; Gedächtnisprüfung). Ende der 1980er-Jahre häuften sich jedoch die empirischen Hinweise, dass diese Idee zu stark vereinfacht ist. Leistungen in Rekognitionsaufgaben können z. B. einerseits durch bewusste, kontrollierte Erinnerungen an eine Lernepisode, anderseits aber auch durch automatische Prozesse wie z. B. Vertrautheitsgefühle beeinflusst werden.

Zur Lösung des Problems, dass Gedächtnisaufgaben niemals «prozessrein» sind, sondern grundsätzlich sowohl kontrollierte aus auch automatische Gedächtnisprozesse reflektieren, schlug Jacoby (1991) die Prozessdissoziationsprozedur vor. Die  Prozessdissoziationsprozedur umfasst ein exp. Paradigma einerseits und ein Messmodell andererseits. Kern des exp. Paradigmas der Prozessdissoziationsprozedur sind zwei Testbedingungen, nämlich die Inklusionsbedingung, in der kontrollierte und automatische Gedächtnisprozesse das Antwortverhalten in die gleiche Richtung beeinflussen, und die Exklusionsbedingung, in der kontrollierte und automatische Prozesse gegenläufig wirken. Eine Möglichkeit, diese beiden Testbedingungen zu realisieren, bietet die Wortanfangsergänzungsaufgabe. In der Inklusionsbedingung werden Pbn instruiert, sich an eine best. Lernepisode zu erinnern und einen vorgegebenen Wortanfang zu einem Wort aus der Lernepisode zu ergänzen. Gelingt dies nicht, soll der Wortanfang zu irgendeinem Wort ergänzt werden. In der Exklusionsbedingung soll dagegen die Ergänzung des Wortanfangs zu einem Wort erfolgen, das nicht in der betreffenden Lernepisode vorkam. Folglich können Ergänzungen zu Wörtern aus der Lernepisode in der Inklusionsbedingung sowohl durch kontrollierte als auch durch automatische Gedächtnisprozesse resultieren, in der Exklusionsbedingung dagegen nur durch automatische Prozesse.

Das von Jacoby (1991) vorgeschlagene Messmodell zur Prozessdissoziationsprozedur konzipiert kontrollierte und automatische Prozesse als dichotome latente Variablen (Variable, latente) und nimmt stochastische Unabhängigkeit (Multiplikationssatz) von kontrollierten Erinnerungen (Wahrscheinlichkeit R) und automatischen Gedächtniseinflüssen (Wahrscheinlichkeit A) an. Es nimmt ferner an, dass zusätzlich keine weiteren kogn. Prozesse (etwa Rateprozesse oder Antworttendenzen; response set) auf Inklusions- und Exklusionstestleistungen (I bzw. E) einwirken. Unter diesen Voraussetzungen ist I = R + (1-R) · A und E = (1-R) · A. Da die Ergänzungswahrscheinlichkeiten zu Wörtern der Lernepisode für die Inklusions- (I) und die Exklusionsbedingung (E) empirisch schätzbar sind, lassen sich Maße für kontrollierte (R = I – E) und automatische Gedächtnisprozesse (A = E / (1 – (I – E)) leicht daraus ableiten.

Die Prozessdissoziationsprozedur ist in dieser Form in nahezu allen Bereichen der Ps. angewendet worden (Erdfelder & Buchner, 2003). Zugleich wurde aber auch Kritik daran geübt, und es wurden Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet. Nachgewiesen wurde, dass die Nichtberücksichtigung von Antworttendenzen und Rateinflüssen zu verzerrten Schätzungen von R und A führen kann (Buchner et al., 1995). Es wurden erweiterte Prozessdissoziationsprozedur-Messmodelle zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, z. T. im Kontext von Hochschwellenmodellen (Buchner et al., 1995; Erdfelder & Buchner, 1998), z. T. im Kontext von Signalentdeckungsmodellen (Yonelinas & Jacoby, 1996; Signalentdeckungstheorie). Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die ungeprüfte stochastische Unabhängigkeitsannahme für kontrollierte und automatische Gedächtnisprozesse. Es wurde gezeigt, wie diese Annahme vermieden (Buchner et al., 1995) oder zum Gegenstand einer empirischen Prüfung gemacht werden kann. Hierbei ist zu unterscheiden zw. der Prüfung der Prozessunabhängigkeit auf kogn. Ebene (Erdfelder & Buchner, 2003; Vaterrodt-Plünnecke et al., 2002) und der Korrelation zw. kontrollierten und automatischen Gedächtnisprozessen über Individuen oder Items hinweg (Rouder et al., 2008). Ein dritter Problemkreis betrifft die Frage, ob die Prozessdissoziationsprozedur als exp. Paradigma überhaupt nötig ist, um kontrollierte und automatische Gedächtnisprozesse zu messen. Gedächtnisprozesse in der  und in Quellengedächtnisaufgaben haben sich in versch. Bereichen als so ähnlich erwiesen, dass die Prozessdissoziationsprozedur schadlos durch Quellengedächtnisaufgaben ersetzt werden kann (Buchner et al., 1997; Steffens et al., 2000). Prinzipiell kommen also neben der Prozessdissoziationsprozedur auch andere exp. Paradigmen zur Messung kontrollierter und automatischer kogn. Prozesse in Frage, wobei die Klasse der Verarbeitungsbaummodelle oftmals einen geeigneten Rahmen zur Konstruktion von Messmodellen bereitstellt.

Referenzen und vertiefende Literatur

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