Sprachentwicklung

 

[engl. language development, development of speech], [EW, KOG], der Erwerb der Sprache gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben im frühen Kindesalter. Diese Aufgabe ist außerordentlich komplex, weil nicht weniger als sechs eigenständige Wissenssysteme aufgebaut werden müssen: das prosodische (Prosodie), phonologische (Phonologie), morphologische (Morphologie), syntaktische (Syntax), lexikalisch-semantische (Semantik) sowie das pragmatische (Pragmatik) System (Grimm & Weinert, 2003). Zus.gefasst besteht die zu erwerbende linguistische Kompetenz aus der Kenntnis über die der Sprache zugrunde liegenden Strukturprinzipien, während die pragmatische Kompetenz i. S. der Verständigungsfähigkeit dasjenige Wissen umfasst, in welchem sozialen Kontext, in welcher Weise und mit welcher Erwartung welchem Gesprächspartner etwas zu sagen und u. U. auch zu verschweigen ist (Kommunikation).

Die Sprachaneignung stellt einen impliziten, nicht bewussten Lernprozess (Lernen) dar, für den das Kind genetisch vorbereitet ist (Genetik). Zwischen der angeborenen Fähigkeit, gehörte Sprache spezif. zu verarbeiten, und äußeren Lernbedingungen muss eine lernbegünstigende Passung bestehen. Der Erwerb der Sprache beginnt lange vor den ersten Wortäußerungen, nach neueren Befunden sogar vor der Geburt (Entwicklung, pränatale, Hennon et al., 2000). Die methodisch immer raffinierteren Möglichkeiten zur Untersuchung von Sprachwahrnehmungsfähigkeiten des Säuglings haben zu Erkenntnissen geführt, die nicht nur für die Ps. von höchstem Interesse sind: Bereits unmittelbar nach der Geburt unterscheiden Säuglinge die menschliche Sprache von anderen Geräuschen und ordnen die sprachlichen Geräusche in phonologisch relevante Kategorien. Weiterhin können sie auf der Grundlage prosodischer Charakteristiken die Muttersprache von fremden Sprachen unterscheiden (u. a. Mehler et al., 1988), wobei vorgeburtliche Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen. Dies wird auch durch den Befund unterstützt, dass Säuglinge gleich nach der Geburt in der Lage sind, einen Text, den die Mutter während der letzten Schwangerschaftsphase oft laut gelesen hat, anhand seiner prosodischen Merkmale wiederzuerkennen (DeCasper & Spence, 1986).

Im Vergleich zu den überraschenden rezeptiven phonologischen Fähigkeiten (Sprachrezeption) sind die Säuglinge im produktiven Bereich (Sprachproduktion) während des ersten Lebensjahres noch recht eingeschränkt. Dabei umfasst die phonologische Entwicklung fünf Meilensteine (Grimm, 2012, Grimm & Weinert, 2003): Zwischen sechs und acht Wochen beginnt der Säugling zu gurren, dann setzt das Lachen ein und es werden bis zum 4. Lebensmonat zunehmend mehr Laute produziert. Das sog. Lallstadium (Lallphase) wird zw. dem 6. und 9. Lebensmonat erreicht, wobei von theoretischer und praktischer Bedeutsamkeit ist, dass Defizite des kanonischen Lallens als Prädiktor für spätere Sprachentwicklungsstörungen (Sprachentwicklungsstörung) dienen können. Die ersten produktiven Wörter werden zw. dem 10. und 14. Lebensmonat gebildet. Der fünfte Schritt der produktiven phonologischen Entwicklung führt schließlich zum Erreichen der magischen 50-Wörter-Marke (Grimm, 2012, Grimm & Doil, 2000). Erst wenn die Kinder im Alter von ungefähr 18 Monaten wenigstens 50 Wörter produktiv beherrschen, sind sie zum weiteren schnellen Wortlernen in der Lage, sodass wenige Monate später ihr Wortschatz schon um die 200 Wörter umfasst und damit die Grundlage für die grammatische Entwicklung bilden kann. Der Prozess der schnellen Zuordnung eines neuen Wortes zu einer ersten, noch unvollständigen Bedeutung wurde erstmals von Carey & Bartlett (1978) untersucht. Entgegen der früher vertretenen Ansicht verhält es sich nicht so, dass Wörter erst dann erlernt werden können, wenn die zugrunde liegenden kognitiven Konzepte vollst. erworben sind. Im Gegenteil, Wörter mit unvollständiger Bedeutung können als Einladung zur Begriffsbildung dienen (Bruner, 1987). Das Problem, dass zahlreiche unterschiedliche Bedeutungen mit einem Wort verbunden sein können, wird als Induktionsproblem bezeichnet. Die Forschergruppe um Markman (Markman & Hutchinson, 1984) nimmt für die Lösung dieses Problems an, dass das Wortlernen auf der Grundlage sog. constraints (Vorannahmen) erfolgt, durch die die zahlreichen Bedeutungsmöglichkeiten auf wenige reduziert werden. Die wichtigsten constraints sind die Ganzheits-, die Taxonomie- sowie die Disjunktionsannahme.

Der Beginn des produktiven Grammatikerwerbs wird dann angesetzt, wenn erstmals Wortkombinationen gebildet werden (Weissenborn, 2000). Zuvor ist den Kindern jedoch schon möglich, grundlegende Aspekte der Grammatik zu verstehen, wie mittels der Präferenztechnik (Präferenzparadigma) nachgewiesen werden konnte (Hennon et al., 2000). Die frühe produktive Grammatik wird wegen der systematischen Auslassung von Funktions- und Relationswörtern auch als telegrafische Sprache bezeichnet. Dennoch ist an der Wortordnung erkennbar, dass die Kinder formale Regularitäten beachten. Erwerben normale Kinder die grundlegenden Wortordnungen der Sprache relativ schnell, so haben Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung sehr lange große Schwierigkeiten damit (Grimm, 1993). Im Alter von ungefähr vier Jahren werden die hauptsächlichen Satzkonstruktionen der Muttersprache beherrscht. Unvollständige und falsch gebildete Äußerungen lassen dabei Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Repräsentationsprozesse mit ihren Reorganisationen zu (Karmiloff-Smith, 1992). Dass das Kind schrittweise zunehmend abstraktere Strukturprinzipien erkennt, lässt sich auch eindrücklich an morphologischen Fehlern demonstrieren. Bowerman (1982) unterscheidet drei Stufen der strukturellen Reorganisation während des Morphologieerwerbs: In der rote stage werden einzelne Formen (wie feet oder broken) als unanalysierte Einheiten isoliert erworben. Übergeneralisierungen (foots oder breaked) signalisieren dann, dass das Kind erkannt hat, dass Wörter aus Einheiten regelhaft zus.gesetzt sind, was schließlich im dritten Entwicklungsschritt zu korrekt gebildeten Formen führt.

In Ergänzung zur linguistischen Kompetenz (Linguistik) geht es bei der Entwicklung pragmatischer Kompetenzen insbes. um die Fähigkeiten, Sprache situations- und kontextadäquat zu gebrauchen (Hickmann, 2000). Dies schließt auch den Aufbau soziokultureller Kenntnisse sowie das Wissen um die Gefühle und Bedürfnisse anderer ein und umfasst damit sehr unterschiedliche Fragestellungen. Entgegen der bekannten Egozentrismusannahme Piagets (Egozentrismus des Kindes, z. B. Piaget, 1972) sind bereits dreijährige Kinder in der Lage, sich an das Informationsbedürfnis und den Status ihres Gesprächspartners anzupassen. Allerdings dauert es dann sehr lange, bis sie in pragmatisch vollst. angemessener Weise über Dinge und Ereignisse reden können. Selbst im Alter von zehn Jahren sind Kinder u. a. noch nicht in der Lage, die Form des Futurs als Hinweis auf ein Versprechen zu interpretieren.

Spracherwerbstheorien versuchen zu erklären, in welcher Weise es dem kleinen Kind gelingt, abstrakte Spracheinheiten und komplexe formale Regularitäten zw. diesen auf der Basis begrenzter konkreter Sprachbeispiele zu erwerben (Grimm & Weinert, 2003). Dabei werden heute keine Extrempositionen mehr vertreten. Dennoch unterscheiden sich die Theorien darin, ob und in welcher Form beim Kind angeborene sprachspezif. Voraussetzungen angenommen werden und welche Rolle der sprachlichen Umwelt zugeschrieben wird (Anlage-Umwelt). Damit erfährt das sog. Lernbarkeitsproblem unterschiedliche Antworten. Golinkoff & Hirsh-Pasek (1990) unterscheiden als zwei große Theoriefamilien die von «außen nach innen» (outside-in) und die von «innen nach außen» (inside-out) gerichteten Theorien. Nur bei den ersten werden keine angeborenen sprachspezif. Voraussetzungen angenommen. Dagegen stimmen insbes. linguistisch orientierte Spracherwerbstheorien darin überein, dass das Kind von Beginn an mit einem hoch abstrakten grammatischen Wissen, der sog. Universalgrammatik (Universalien, universelle Grammatik), ausgestattet ist (Chomsky, 1982), das auf ein unabhängig operierendes Modul des Gehirns gedacht ist. Damit kommen der Umweltsprache und den allg. Lernfähigkeiten des Kindes eine vergleichsweise unbedeutende Rolle im Spracherwerbsprozess zu. Sprachentwicklungspsychologen nehmen gewöhnlich eine vermittelnde Position ein und stellen den Passungsgedanken zwischen inneren und äußeren Bedingungen in den Vordergrund, wobei die Annahme angeborener sprachspezif. Voraussetzungen auf der Basis der Ergebnisse aus der Säuglingsforschung eine solide empirische Begründung erfährt.

Es gibt keinen Zweifel, dass der Spracherwerb ein biol. fundierter, eigenständiger Problembereich ist. Dafür sprechen folg. vier Beobachtungen: Der Spracherwerb ist humanspezif. Die grundlegende Fähigkeit zum Spracherwerb erweist sich gegenüber Umweltdeprivationen als robust (Grimm, 1987). Bereits beim Neugeborenen weist das Gehirn erste laterale Funktionsgliederungen auf. Viertens ist der Spracherwerb auch bei eingeschränkten kogn. Fähigkeiten (z. B. Intelligenzminderung) möglich. Unbestritten ist, dass die auf den Spracherwerb gerichteten Fähigkeiten des Säuglings nur in der Interaktion mit Lernerfahrungen wirksam werden können, die in eine pos. soz.-emot. Beziehung zw. primärer Bezugsperson und Kind eingebettet sind (Eltern-Kind-Beziehung, Keller, 2000, Ritterfeld, 2000). Die Unterstützung der komplexen Aufgabe des Spracherwerbs erfolgt durch ganz besondere Sprachregister (Grimm, 2012): Mit der Ammensprache fördert die Mutter die prosodisch-phonologischen Unterscheidungen des Säuglings. Ab dem 2. Lebensjahr wird i. R. einer stützenden Sprache (Scaffolding) insbes. der Wortschatz eingeführt. Ab dem 24. Lebensmonat steht die lehrende Sprache (Motherese) als Modellsprache für die Unterstützung des Grammatikerwerbs im Vordergrund (Grimm, 2000).

Referenzen und vertiefende Literatur

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