Störungen des Sozialverhaltens

 

[engl. conduct disorders], [KLI], werden zu den externalisierenden Störungen gezählt. Das Erscheinungsbild dieser Störung ist durch ein wiederholt auftretendes und andauerndes Muster von aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhaltensweisen gekennzeichnet, die Grundrechte anderer sowie altersentsprechende soziale Erwartungen, Normen und Regeln verletzen. Starke Wutausbrüche, Ungehorsam, absichtliche Zerstörung des Eigentums anderer oder körperl. Grausamkeiten gegenüber anderen Menschen sind Bsp. für aggressives Verhalten i. R. der Störungen des Sozialverhaltens. Zu delinquenten Handlungen, deren alleiniges Vorliegen die Diagnose nicht rechtfertigt, zählen u. a. das Stehlen von Wertgegenständen, Brandstiftung oder der Einbruch in Häuser, Gebäude und Autos.

Ätiologie: Aggressives Verhalten (Aggression, klinische Perspektive) entsteht durch Zusammenwirken einer genetischen Disposition und ungünstigen Umwelteinflüssen. Frühe Risikofaktoren stellen pränatale Komplikationen, psych. Belastung der Mutter während der Schwangerschaft sowie peri- und neonatale Schwierigkeiten dar. Ein schwieriges Temperament, Regulationsstörungen im ersten Lebensjahr, die sich u. a. in exzessivem Schreien äußern können, und Störungen im Bindungsverhalten bahnen den Weg für aggressives Verhalten. Liegt eine allg. Überforderung aufseiten der Eltern vor, z. B. durch eigene psych. Störungen, können die Herausforderungen in der Kindererziehung, wie den Kindern zu helfen, ihre Gefühle adäquat zu regulieren, nicht gut bewältigt werden. In solchen Fällen können die Eltern die Kinder nicht gut unterstützen, eine angemessene Emotionsregulation zu erlernen, was später den Erwerb von adäquatem Sozialverhalten erschwert. Dem Erziehungsverhalten der Eltern kommt bei der Entstehung einer aggr. Symptomatik eine wichtige Bedeutung zu. Erziehungsmethoden, die sich durch wenig pos. emot. Rückmeldungen, harsche Disziplinierungen bis hin zur körperlicher Misshandlung auszeichnen, begünstigen aggressives Verhalten. Aber auch ein vernachlässigendes oder ein inkonsistentes Verhalten gegenüber den Kindern, gelten als Risikofaktoren. Befunde zeigen, dass rezeptive und expressive Sprachstörungen bei Jungen im Alter von fünf Jahren in Zshg. mit aggressivem Verhalten in der Adoleszenz stehen. Es wird vermutet, dass diese sprachlichen Defizite nicht direkt auf aggressives Verhalten wirken, sondern schulische Misserfolge provozieren und ein neg. Selbstbild entstehen lassen, das seinerseits die Symptomatik unmittelbar beeinflusst. Schlechte schulische Leistungen und defizitäre soziale Kompetenzen können dazu führen, dass sich betroffene, vor allem männliche Jugendliche an Gleichaltrigen orientieren, die delinquentes und aggr. Verhalten pos. verstärken.

Klassifikation: Im DSM-5 kann eine Störungen des Sozialverhaltens vergeben werden, wenn mind. drei von 15 symptomatischen Verhaltensweisen aus den Bereichen (1) aggressives Verhalten gegen Menschen und Tiere (z. B. bedroht oder schüchtert andere ein; beginnt häufig Schlägerei), (2) Zerstörung von Eigentum (z. B. beging vorsätzliche Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen), (3) Betrug und Diebstahl (z. B. brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein) und/oder (4) Schwere Regelverstöße (z. B. schwänzt schon vor dem Alter von 13 Jahren häufig die Schule) in den vergangenen 12 Monaten gezeigt wurden, wobei ein Verhalten in den letzten sechs Monaten aufgetreten sein muss. ICD-10 und DSM-5 unterscheiden sich nur geringfügig in den Symptomkriterien. In der Einordnung der Symptomatik findet sich aber eine bedeutsame Abweichung. Im DSM-5 wird eine separate Diagnose für aufsässiges und oppositionelles Verhalten definiert: die Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten. Diese wird zwar als häufige Vorläuferstörung der Störungen des Sozialverhaltens verstanden, aber unabhängig von diesen kodiert. In der ICD-10 wird die oppositionell-wütende Symptomatik hingegen als eine mildere Form der Störungen des Sozialverhaltens aufgefasst und entspr. als ein Subtypus als Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten diagnostiziert. Das DSM-5 gestattet es jedoch, gleichzeitig die Diagnosen Störung mit oppositionellem Trotzverhalten und Störungen des Sozialverhaltens zu vergeben. In der ICD-10 werden insges. sechs symptomatische Subtypen an Störungen des Sozialverhaltens differenziert. Die Unterscheidung dieser Typen erfolgt anhand des Kontextes des Auftretens (generalisiert vs. auf den familiären Kontext beschränkt), der sozialen Bindungen (fehlend vs. vorhanden) oder der Schwere des Verhaltens (oppositionell-aufsässig vs. aggressiv-dissozial) (Klassifikation psychischer Störungen, s. Anhang I, F91/92).

Prävalenz und Verlauf: Die Einjahresprävalenz wird auf 2 bis zu 10 % für eine Störungen des Sozialverhaltens nach DSM-5 geschätzt. Die Prävalenzraten steigen von der Kindheit bis ins Jugendalter an. Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit treten erst mit zunehmendem Alter in Erscheinung. Es kann von einem Geschlechtsverhältnis von Jungen und Mädchen von 2 zu 1 ausgegangen werden. Im DSM-5 als auch in der ICD-10 sind Unterteilungen der Diagnose von Störungen des Sozialverhaltens vorgenommen worden, um empirischen Befunden Rechnung zu tragen, die zeigen, dass betroffene Kinder und Jugendliche hinsichtlich Verlauf und Prognose beachtlich divergieren können. Aggressives Verhalten gilt als äußerst stabil und belastet die familiären und sozialen Beziehungen sowie die psych. Gesundheit der Betroffenen massiv. Dennoch variiert das Ausmaß in Abhängigkeit versch. Merkmale. Das DSM-5 unterteilt deshalb die Gruppe der Störung des Sozialverhaltens anhand der drei Merkmale Störungsbeginn in Kindheit oder Jugend, Schweregrad und Mangel an prosozialen Emotionen, um so eine präzisere Prognose aus der Diagnose ableiten zu können. Tritt ein Symptom der Störungen des Sozialverhaltens bereits vor dem zehnten Lebensjahr auf, wird von einem Beginn in der Kindheit gesprochen – andernfalls von einem Beginn in der Jugend. Wenn einzelne aggr. Symptome seit der Kindheit vorliegen, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Störung einen ungünstigen, chronischen Verlauf nimmt. Bei dieser Gruppe treten körperliche Aggressionen, Drogenmissbrauch und kriminelles Verhalten stärker auf. Das Risiko, eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung zu entwickeln, ist in dieser Gruppe im Vgl. zu einem Störungsbeginn in der Adoleszenz deutlich erhöht. Mit dem letzten Merkmal Mangel an prosozialen Emotionen im DSM-5 wurden Studienergebnisse berücksichtigt, die den Zshg. der Störungen des Sozialverhaltens mit dem Konzept der Psychopathie bzw. den kühl-unemotionalen Persönlichkeitsmerkmalen (callous unemotional traits, CU-Traits) herausstellten (Stadler, 2014). Auch komorbide Störungen, bes. die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, beeinflussen den Verlauf der Störungen des Sozialverhaltens. Ein gemeinsames Auftreten beider Störungen stabilisiert und fördert aggr. und delinquentes Verhalten.

Diagnostik: Die Diagnose einer Störungen des Sozialverhaltens sollte sich auf eine umfangreiche Datengrundlage stützen, die durch den Einsatz multipler Methoden und durch die Befragung der Betroffenen, der Erziehungsberechtigten und der Lehrkräfte gewonnen wird. Zur Abklärung der psychiatrischen Diagnosen nach ICD und DSM bieten sich strukturierte klinische Interviews an, die mit dem betroffenen Jugendlichen und den Eltern durchgeführt werden. Hinzuzuziehen sind psychometrische Fragebögen, anhand derer die Schwere der Störung eingeschätzt werden kann. Wichtige Erkenntnisse können auch der Verhaltensbeobachtung entnommen werden. Insbes. die Beobachtung der Interaktion zw. den Eltern und dem Kind bzw. Jugendlichen können Hinweise auf den typischen familiären Umgang miteinander und auf Prozesse der Verstärkung liefern. In der Anamnese sind u. a. auf Indikatoren von körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch, elterlicher Psychopathologie zu achten sowie der Erziehungsstil zu erheben. Für die Therapie sind weitere diagn. Informationen von Bedeutung, die ebenfalls multimodal erhoben werden sollten. So können erst verlässliche Auskünfte gewonnen werden, welche aggressive Verhaltensweisen wie intensiv und in welchen Situationen (und in welchen nicht) gezeigt und aufrechterhalten werden. Unverzichtbar für eine effektive Therapie sind Kenntnisse von indiv., veränderbaren wie stabilen, Risiko- und Schutzfaktoren des Kindes und der psychosozialen Umwelt. Bspw. muss abgeklärt werden, ob die Eltern psych. stabil genug sind, um die Behandlung des Kindes aktiv unterstützen zu können. Auf Ressourcenseite (Ressourcenorientierung) ist es ferner relevant abzuklären, in welchem Ausmaß pos. Beziehungen zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen bestehen. Hieraus können Ableitungen direkt getroffen werden, wie defizitär entwickelt die sozialen Kompetenzen sind und wie stark diese gefördert werden müssen. Diagn. Instrumente, die zur Erfassung von Aspekten des Sozialverhaltens eingesetzt werden, sind im Verzeichnis diagn. Verfahren im Index aufgeführt.

Referenzen und vertiefende Literatur

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