Arzneimittelentwicklung

 

[engl. drug development],[PHA], Grundlage für eine rationale Arzneimittelentwicklung ist die Aufklärung der Wirkmechanismen – zumindest auf biochemischer Ebene – der gängigen Klassen von Psychopharmaka. Seit Beginn des 21. Jhdts.  haben das Verständnis um die neurobiol. Fundierung psychischer Störungen und die Arzneimittelentwicklung zu einer wechselseitigen Fortentwicklung geführt. Arzneimittel stellen heute ein wichtiges Werkzeug zur Erforschung der Neurobiologie von Denken, Fühlen und Verhalten dar. Allerdings ist genau dieser Prozess der wechselseitigen Befruchtung von neurobiol. Forschung und Medikamentenentwicklung in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr ins Stocken geraten. Seit mehr als 15 Jahren wurden keine wirklich innovativen Psychopharmaka mit neuem Wirkmechanismus mehr bis zur Marktreife entwickelt. Die Kosten für die Entwicklung eines neuen Neuropsychopharmakons bis zum Markteintritt betragen inzw. fast eine Mrd. Dollar, und ihre Entwicklungszeit bis zur Markteinführung beträgt i. d. R. deutlich mehr als ein Jahrzehnt. Nachdem sich Ende 1951 der franz. Pharmakonzern Rhone-Poulenc entschlossen hatte, Chlorpromazin auch bei psychiatrischen Pat. zu untersuchen, begann man im Februar 1952 mit der klin. Prüfung. Nach pos. Erfahrungen in offenen Studien an kleinen Pat.zahlen erhielt Chlorpromazin als erstes Antipsychotikum im Herbst 1952 die Marktzulassung – nach weniger als einem Jahr seit der ersten Anwendung an Pat. Seitdem musste sich die Arzneimittelentwicklung einem immer komplexeren meth., rechtlichen und ethischen Regelwerk unterwerfen. Zentrale Bedeutung haben hier die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA), die 1964 von der 18. Generalversammlung der WMA verabschiedet wurde, und die ein Regelwerk für die Durchführung von klinischen Studien von der Planung bis zur Publikation darstellt, sowie die Richtlinie der Guten Klinischen Praxis (Good Clinical Practice, GCP) der International Conference on Harmonization (ICH), die 1997 veröffentlicht wurde. GCP wurde von den Gesundheitsbehörden der EU, der USA und Japans unter Beteiligung anderer Industriestaaten (Australien, Kanada, Skandinavien) und der WHO entwickelt, um einen internat. gültigen Standard für die Planung, Durchführung und Dokumentation klin. Studien zu schaffen. Hinzu treten eine Vielzahl von nationalen (z. B. Arzneimittelgesetz, AMG) und intern. Gesetzen und Regularien, die die Entwicklung  eines neuen Arzneimittels bis zur Marktreife zu einer äußerst langwierigen und kostspieligen Prozedur haben werden lassen.

In der klin. Prüfung am Menschen unterscheidet man vier Phasen: Phase I: Prüfung der Humanpharmakologie und der Verträglichkeit i. d. R. an kleinen Kollektiven gesunder Pbn; Phase II: Explorative Prüfung der Wirksamkeit des Arzneimittels und Dosisfindung an Pat., i. d. R. im randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Design (randomisierte kontrollierte Studie); Phase III: Nachweis der Wirksamkeit und Verträglichkeit der Substanz in großen Studien an Pat. in randomisierten und doppelblinden Studien gegen eine Referenzsubstanz und ggf. Placebo; Phase IV: Überprüfung der therapeutischen Anwendung, i. d. R. nach der Zulassung des Arzneimittels.

Die Entwicklung vieler neuer Substanzen musste in den letzten Jahren in der Phase III eingestellt werden, d. h. zu einem Zeitpunkt, bis zu dem sie oft bereits mehrere Hundert Mio. Dollar gekostet hatten. Als wesentliche Ursachen für das Scheitern vieler Psychopharmaka in der Spätphase ihrer Entwicklung betrachtet man einerseits das unzureichende Verständnis der Neurobiologie psych. Störungen, andererseits die mangelhafte Kenntnis über die Wirkmechanismen von Neuropsychopharmaka. Das daraus resultierende hohe Risiko der Arzneimittelentwicklung im ZNS-Bereich hat dazu geführt, dass sich mehrere große Pharmakonzerne aus dem Segment zurückgezogen haben, obwohl das Marktpotenzial von Substanzen gegen z. B. Demenzen, depressive oder schizophrene Störungen enorm ist. Auf der anderen Seite hatte die Risikoaversion der pharmazeutischen Industrie auch zur Folge, dass für bekannte, bereits zugelassene Arzneimittel neue Indikationsbereiche erschlossen wurden, was, verglichen mit Neuentwicklungen, Kosten und Risiken reduziert. Bsp. hierfür sind die Indikationsausweitungen für viele Antidepressiva über die klassische Indikation Depression hinaus auf z. B. Angst-, Zwangs- und Essstörungen oder für viele neuere Antipsychotika auf affektive Störungen. Dieser Prozess der Repositionierung von bekannten Pharmaka in neuen Indikationen führte auch dazu, dass einerseits die Nomenklatur von Psychopharmaka in Frage gestellt wurde. Andererseits wurde auch dadurch immer klarer, dass neurobiol. Prozesse die klassischen nosologischen Grenzen zw. psych. Störungen überschreiten. Arzneimittelzulassung und NutzenbewertungPsychopharmakotherapie, Operationalisie­rung.