bedingter Reflex, bedingte Reaktion
[engl. conditioned reflex, conditioned reaction; lat. reflexus Widerspiegelung, reactio Rückhandlung], [KOG], Konditionierung wurde erstmals beschrieben von den russischen Physiologen Pawlow und Bechterew. Letzterer fand, dass Hunde ihr Bein «automatisch» auf ein Summerzeichen hin anhoben, nachdem dies vorher häufig zus. mit einem dem Bein zugefügten elektrischen Schock vorgekommen war. Die Erscheinung wurde assoziativer Motorreflex genannt. Sie stellte die Grundlage dar für sein System der Objektiven Psychologie. Pawlow fand bei seinen Forschungen über die Arbeitsweise der Verdauungsdrüsen, dass seine Versuchstiere nicht erst beim Anblick oder Duft des Futters Speichel sezernierten, sondern manchmal schon auf Reize hin, die mit dem Futter selbst nichts zu tun hatten, aber vorher häufig zus. mit dem Futter aufgetreten waren. Diese von ihm zunächst «psychische Sekretion» genannte Erscheinung bezeichnete er später als bedingten Reflex. Watson führte den Begriff in Amerika ein und machte ihn zu einem der Grundbegriffe des Behaviorismus. Die Herstellung eines bedingten Reflexes wird von vielen als Prototyp des Lernens (Lernen, Lernforschung) angesehen.
Grundlegendes Merkmal des bedingten Reflexes ist, dass ein angeborener, d. h. unbedingter Reflex (Reflex der Nahrungsaufnahme, Pupillenr. usw.) mit einem beliebigen anderen Ereignis in der Weise verknüpft wird, dass dieses entweder den ursprünglichen Reflex selbst oder einen damit eng verbundenen Vorgang auslöst. Bedingungen seines Zustandekommens sind v. a. zeitliches Zusammentreffen beider Ereignisse und Wiederholung. Im klassischen Fall des Pawlow'schen Experimentes wird z. B. ein Klingelzeichen jedes Mal unmittelbar vor Verabreichung des Futters geboten. Das Versuchstier sezerniert zunächst nur beim Anblick oder Geruch des Futters Speichel (unbedingter Reflex, unkonditionierte Reaktion). Nach mehreren Wiederholungen setzt die Speichelabsonderung bereits beim Ertönen der Klingel ein (bedingter Reflex). Der Klingelton ist damit zum bedingten Reiz (konditionierter Stimulus) geworden, im Ggs. zum Geruch oder Anblick des Futters, welches den unbedingten Reiz (unkonditionierter Stimulus) darstellt. Es gelten für den bedingten Reflex die bereits von Pawlow formulierten Gesetze der Wiederverstärkung [engl. reinforcement] und Auslöschung [engl. extinction]. Ersteres besagt, dass jedes Vorkommen eines unbedingten Reflexes in zeitlichem Zusammentreffen mit einem bedingten Reflex diesen verstärkt. Nach dem Gesetz der Auslöschung wird der bedingte Reflex geschwächt oder inaktiviert, wenn keine Wiederverstärkung durch den unbedingten Reflex erfolgt. Das Versuchstier würde also nicht mehr auf das Klingelzeichen hin Speichel sezernieren, wenn dieses häufig genug ohne Verabreichung des Futters geblieben ist.
Ein anderer Typus von Experimenten zur Herstellung eines bedingten Reflexes sind solche, bei denen das Versuchstier lernt, best. Handlungen auszuführen, um zu seinem Futter zu kommen (Skinner’scher Kasten (Skinner box)) oder einen schädlichen Reiz zu vermeiden. Man spricht von instrumentalem Konditionieren (instrumental conditioning, Konditionierung, instrumentelle, Hilgard & Marquis, 1940), weil das Tier gewisse zweckgerichtete Bewegungen ausführen muss. Die Skinner’sche Versuchsanordnung heißt operantes Konditionieren (operant conditioning, Konditionierung, operante). Experimente, in denen ein schädlicher Reiz vermieden werden muss, wie z. B. ein elektrischer Schock, heißen Vermeidungskonditionieren(avoiding conditioning). Diesen Versuchen ist gemein, dass das Tier nach Versuch und Irrtum (trial-and-error learning) lernt, wobei die richtigen Bewegungen das Erscheinen eines unbedingten Reizes zur Folge haben (z. B. Herausfallen des Futters bei Druck auf einen Hebel im Skinner’schen Kasten), also verstärkt werden (Verstärkung, Verstärker), während die übrigen nicht von einem solchen gefolgt werden und somit eine Schwächung erfahren. Solche Vorgänge entsprechen dem vorher schon von Thorndike formulierten Lerngesetz (law of effect = Gesetz der Wirkung, Gesetz des Effekts). Da sie aber auch alle für den bedingten Reflex einschlägigen Erscheinungen aufweisen, können sie als solche interpretiert werden.
Je nachdem, ob von dem klass. Pawlow’schen oder dem Wirkungsgesetz ausgegangen wird, haben sich versch. Theorien über das Lernen (Lerntheorien) durch bedingte Reflexe ausgebildet. Geht man von Ersterem aus, steht die zeitliche Kontingenz im Vordergrund (Kontingenztheorien). Der konsequenteste Vertreter dieser Art ist Guthrie. Hull ging vorwiegend von dem Lernen aufgrund des Effektes aus. Als wirksames Agens (unbedingten Reflex) der Wiederverstärkung postulierte er triebreduzierende Wirkungen.
Mehrere Erklärungen sind für die Auslöschung des bedingten Reflexes beim Ausbleiben des unbedingter Reflexes gegeben worden. Pawlow nahm einen hemmenden Vorgang im Nervensubstrat (Nervensystem) an, der bei Erscheinen des bedingten Reizes einsetzt, aber durch den folg. unbedingten Reiz aufgehoben wird. Tritt letzterer nicht ein, so führt die Hemmung (interne Inhibition) zum Abbau des bedingten Reflexes. Guthrie erklärt die Auslöschung durch Umlernen, indem jetzt die neue Abfolge: bedingter Reiz – Ausbleiben des unbedingten Reflexes gelernt wird. Unter gewissen Umständen kann der Prozess der Auslöschung aufgehalten werden. So zeigt sich nach Unterbrechung der zur Extinktion führenden Versuchsreihe bei Wiederaufnahme nach gewisser Zeit eine spontane Wiederherstellung des bedingten Reflexes. Außerdem kann der die Auslöschung bewirkende Prozess der Inhibition selbst gehemmt werden (Inhibitionshemmung, disinhibition), wenn das Versuchstier durch einen äußeren Reiz abgelenkt wird. Der u. U. bereits nahezu verschwundene bedingte Reflex erfährt dadurch ein deutliches Wiederaufleben.
Sonderfälle des Konditionierens ergeben sich durch Veränderung der zeitlichen Abfolge von bedingtem Reiz zu unbedingtem. Lässt man das Klingelzeichen erheblich vor dem unbedingten Reiz einsetzen und lässt es sich bis zu diesem hin erstrecken, spricht man von verzögertem Konditionieren (delayed conditioning), gibt man es vorher und lässt eine Pause eintreten, von Spurkonditionieren (trace conditioning). Entstehung eines bedingten Reflexes dort, wo der bedingte Reiz nach dem unbedingten Reflex dargeboten wurde, konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden. Die beschriebene Versuchsanordnung heißt rückwirkendes Konditionieren (backward conditioning). Die optimalen Verhältnisse der zeitlichen Abfolge liegen vor, wenn der bedingte Reiz dem unbedingten unmittelbar vorausgeht.
Über die physiol. Grundlagen des bedingten Reflexes ist wenig bekannt. Versuche am dezerebrierten Tier ergaben widersprechende Ergebnisse darüber, ob es rein spinale bedingte Reflexe gäbe. Der normale morphologische Ort der Nervenprozesse für die bedingten Reflexe ist die Großhirnrinde (Gehirn). Jedoch ergaben Versuche mit herabgesetzter Erregbarkeit der Rindensubstanz durch Curareinjektion, dass die Herstellung von bedingten Reflexen wahrscheinlich auch im subkortikalen Bereich möglich ist. Ein unter Curare konditionierter Reflex funktioniert nur unter denselben physiol. Bedingungen, d. h., er lässt sich am curarefreien Tier nicht hervorrufen.
Seitens der Kybernetik wurden Modelle entwickelt, die gewisse Hypothesen über die Vorgänge im NS während des Bedingens zulassen (Wiener, 1968). Auch ist es möglich, an elektronischen Apparaten Vorgänge hervorzurufen, die viele wesentliche Merkmale mit dem bedingten Reflex gemeinsam haben.
Humphrey (1956) setzte die Vorgänge bei der Entstehung des bedingten Reflexes in Beziehung zu denen, die den Wertheimer’schen Scheinbewegungen zugrunde liegen. Er geht davon aus, dass den beiden in erheblicher zeitlicher Nähe dargebotenen Reizen (bedingter und unbedingter Reiz) zwei neurale Impulsstrukturen entsprechen, die in ähnlicher Weise einen ganzheitlichen Prozess bilden, wie man es sich bei den nervösen Vorgängen im Falle der Scheinbewegung vorzustellen hat. Die dabei entstehende Gesamtstruktur ist etwas Neues und entspricht weder genau den Vorgängen im Gefolge des isolierten ersten noch denen des isolierten zweiten Reizes. Dies ist mit den Tatsachen durchaus vereinbar, da selbst ein optimaler bedingter Reiz eine bedingte Reaktion hervorruft, die sich qual. und quant. von der auf den unbedingten unterscheidet.