Diskrepanzkriterium

 

[engl. discrepancy criterion; lat. discrepare nicht übereinstimmen], [DIA, KLI, PÄD], das Diskrepanzkriterium kommt in der Diagnostik von Lernstörungen zum Tragen. Es beschreibt das Phänomen, dass schulische Fertigkeiten (Lesen, Rechtschreiben (Schreiben), Mathematik) sich nicht normal entwickeln, sondern «deutlich unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters, der allg. Intelligenz und der Beschulung zu erwarten wäre» (Saß et al., 2003, 57). Um eine solche Lernstörung nach ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen (International Classification of Diseases (ICD)) der Weltgesundheitsorganisation) zu diagnostizieren, muss eine zweifache Diskrepanz gegeben sein: die Leistungen eines Schülers liegen deutlich (mind. eine Standardabweichung) unter dem Vergleich mit der entspr. Alters- bzw. Klassenstufe (Normierung) und es besteht eine bedeutsame Diskrepanz (in der klin. Praxis meist von 1,2 bis 1,5 Standardabweichungen) zw. den unterdurchschnittlichen Schulleistungen und der indiv. Intelligenz. Als Hauptkategorien der sog. Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten gibt es die Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie), die isolierte Rechtschreibstörung, die Rechenstörung und die kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten, eine Diagnose, die dann gestellt wird, wenn sowohl Lese- bzw. Rechtschreibleistungen als auch Rechenleistungen beeinträchtigt sind.

Die Anwendung des Diskrepanzkriterium führt zu einer Differenzierung zw. lernschwachen Kindern mit höherer vs. niedrigerer Intelligenz. Die Rechtfertigung für diese Differenzierung ist die zugrunde liegende theoretische Annahme, dass den Lernstörungen, die eine Diskrepanz zur Intelligenz aufweisen, ein basales primäres Defizit zugrunde liege, das unabhängig von der Intelligenz sei. Diese Annahme ist Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse, wobei das Diskrepanzkriterium zunehmend infrage gestellt wird.

Den Argumenten von Stanovich (2005) zufolge könnten vier Aspekte das Diskrepanzkriterium als Grundlage der Diagnose Lernstörung rechtfertigen: (1) Die Informationsverarbeitung ist bei Kindern mit vs. ohne Diskrepanz versch. (2) Die neurobiol. Grundlage der Lernstörung ist versch. (3) Unterschiedliche Behandlungs- und Therapiemaßnahmen (Intervention) sind bei Kindern mit vs. ohne Diskrepanz unterschiedlich erfolgreich. (4) Die Ätiologie der beiden Gruppen ist grundsätzlich versch. Zu allen vier Aspekten liegen empir. Befunde vor, die allerdings die Kontroverse noch nicht endgültig beilegen können. In der Summe sprechen die Befunde eher gegen eine Differenzierung zw. Kindern mit und ohne Diskrepanz (vgl. Stanovich, 2005): Schwache Leser mit und ohne Diskrepanz zeigen ganz ähnliche Fehlermuster beim Lesen, beim Schreiben, in der phonologischen Informationsverarbeitung (phonologische Bewusstheit) und in versch. Gedächtnisaufgaben (Gedächtnis), insbes. im Arbeitsgedächtnis (Mähler & Schuchardt, 2011). Trotz erster Erfolge, neuropsychol. Korrelate zu lokalisieren, haben sich keine Evidenzen für neuroanatomische Unterschiede zw. Kindern mit Lernstörung mit höherer vs. niedrigerer Intelligenz ergeben. Es scheint keine differenziellen Trainingserfolge bei Kindern mit vs. ohne Diskrepanz zu geben. Schließlich hat sich die Erblichkeit bei Kindern mit Diskrepanz nicht als höher erwiesen, was zu erwarten gewesen wäre bei einer besonderen Ätiologie in dieser Gruppe. Vieles spricht also gegen die Logik des Diskrepanzkriteriums, weshalb einige Länder bei der Diagnostik der Lernstörungen bereits darauf verzichten.

Referenzen und vertiefende Literatur

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