Entwicklungsstörungen, umschriebene
[engl. specific developmental disorders], [KLI], zeichnen sich durch eine gestörte E. in einer spezif. E.dimension aus. Dazu zählen insbes. die Sprache und das Sprechen, die Motorik sowie schulische Fertigkeiten (Lesen, Schreiben und Rechnen). Die Leistungen der Kinder weichen in dem betroffenen E.bereich erheblich vom Altersdurchschnitt ab und sind ursächlich nicht auf eine allg. Intelligenzminderung, mangelnde häusliche oder schulische Lernmöglichkeiten sowie sensorische oder neurologische Auffälligkeiten zurückzuführen. Die umschriebene
Entwicklungsstörungen zeichnen sich i. A. durch einen ausnahmslosen Beginn im Kleinkindalter oder in der Kindheit, eine Verzögerung solcher Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft sind, sowie einen stetigen Verlauf ohne Remissionen oder Rezidive aus. Spezif. äußern sich Störungen der Sprache und des Sprechens durch Fehler in der Lautbildung (Artikulationsstörungen), einen verminderten Wortschatz bzw. den fehlerhaften Gebrauch von Grammatik (expressive Sprachstörung) sowie ein vermindertes Sprachverständnis (rezeptive Sprachstörung; Sprachentwicklungsstörung). Motorische E.s. zeichnen sich durch defizitäre Koordinationsleistungen in den Bereichen der Fein- und Grobmotorik aus. Im Alltag wirken die Bewegungen der betroffenen Kinder plump und unbeholfen. Lesestörungen (Lese-Rechtschreib-Störung) zeigen sich in Form von fehlerhaftem Vorlesen bzw. mangelndem Leseverständnis. Symptome einer Rechtschreibstörung sind bspw. eine fehlerhafte Groß- und Kleinschreibung, Auslassungen oder Spiegelungen von Buchstaben. Charakteristisches Merkmal der Rechenstörung ist eine defizitäre Beherrschung der vier Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division (Dyskalkulie, Rechenschwäche); höhere math. Fertigkeiten bleiben i. d. R. unbeeinträchtigt.
Ätiologie: Als Hauptursache aller umschriebenen
Entwicklungsstörungen wird eine genetische Prädisposition diskutiert. Treten zusätzlich neg. moderierende Einflüsse hinzu, zeigt sich ein erhöhtes Risiko für die Manifestation einer umschriebenen
Entwicklungsstörung (Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Im Kontext von Sprach- und Sprechstörungen werden neben der genetischen Komponente Umweltfaktoren wie eine mangelnde Sprachanregung oder frühkindliche Hirnschädigungen als Ursachen benannt (von Suchodoletz, 2013). Die Ätiologie der motorischen E.s. ist nicht eindeutig geklärt; neben genetischen Einflüssen scheinen bei der Entstehung dieser Störung auch versch. Faktoren wie Frühgeburtlichkeit, ein geringes Geburtsgewicht oder schadhafte Einflüsse auf das Ungeborene im Mutterleib (z. B. Alkohol, Nikotin) beteiligt (Blank et al., 2012). Lese-Rechtschreib-Störungen resultieren aus dem komplexen Zusammenwirken der genetischen Disposition, versch. neurobiol. Korrelate sowie einer defizitären sprachlich-phonologischen und visuell-schriftsprachlichen Informationsverarbeitung (Warnke & Baier, 2013). Rechenstörungen könnten zusätzlich durch neuropsychol. Defizite in den Domänen Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Sprache und visuell-räumliche Wahrnehmung verursacht sein.
Klassifikation: Der Begriff der umschriebenen
Entwicklungsstörung wird insbes. durch die ICD-10 geprägt (Klassifikation psychischer Störungen; s. Anhang I). In Kapitel F8 erfolgt eine Einteilung in umschriebene
Entwicklungsstörungen. des Sprechens und der Sprache (F80), umschriebene
Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81), umschriebene
Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (F82) sowie kombinierte umschriebene
Entwicklungsstörungen (F83). Das DSM-5 klassifiziert die umschriebene
Entwicklungsstörungen unter den Störungen der neuronalen und mentalen E. und verzichtet auf die Verwendung des Begriffes der umschriebene
Entwicklungsstörungen Die Störungsbilder werden unter den Bezeichnungen Kommunikationsstörungen (Sprachstörung, Artikulationsstörung, Redeflussstörung mit Beginn in der Kindheit, soziale Kommunikationsstörung), spezif. Lernstörung und motorische Störungen (entwicklungsbezogene Koordinationsstörung) zus.gefasst. Trotz der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten ähneln sich die diagn. Kriterien beider Klassifikationssysteme. Sowohl die ICD-10 als auch das DSM-5 fordern, dass die Leistungen in einem Test zur spezif. Erfassung des betroffenen Funktionsbereichs (standardisierte Testverfahren zur Erfassung sprachlicher, motorischer oder schulischer Fertigkeiten) deutlich (je nach Störung 1,2 bis 1,5 Standardabweichungen) von der Altersnorm sowie dem allg. Leistungsniveau des Kindes abweichen (Diskrepanzannahme; Diskrepanzkriterium). Zusätzlich gilt es, neurologische und sensorische Defizite, eine Intelligenzminderung sowie eine tiefgreifende Entwicklungsstörung auszuschließen (Normalitätsannahme). Zu den umschriebenen
Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens (F80) zählen die Artikulationsstörungen (F80.0), expressive (F80.1) und rezeptive Sprachstörung (F80.2) sowie die erworbene Aphasie und Epilepsie (F80.3, auch Landau-Kleffner-Syndrom).
Innerhalb der umschriebenen
Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten (F81) wird zw. u. Lesestörung (F81.1), isolierter Rechtschreibstörung (F81.2), Rechenstörung (F81.3) sowie kombinierter Störung schulischer Fertigkeiten (F81.4) unterschieden. Bei umschriebenen
Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen (F82) besteht zusätzlich die Möglichkeit der Bildung von Subgruppen (umschriebene
Entwicklungsstörungen der Grobmotorik (F82.0), umschriebene
Entwicklungsstörungen der Fein- und Grafomotorik (F82.1) sowie umschriebene
Entwicklungsstörungen der Mundmotorik (F82.2). I. Ggs. zu den Def. der anderen Störungskategorien der umschriebenen
Entwicklungsstörungen wird keine Diskrepanz zw. motorischer und intellektueller Leistung gefordert, stattdessen sind Kinder mit einem nonverbalen IQ unter 70 von der Diagnose auszuschließen.
Prävalenz und Verlauf: Die Angaben zur Auftretenshäufigkeit von Sprach- und Sprechstörungen variieren in Abhängigkeit davon, wie die Grenze zw. normaler und abweichender E. def. wird, erheblich zw. 2% und 30 %. Legt man die diagn. Kriterien der ICD-10 zugrunde, werden Prävalenzen von 5 bis 8 % berichtet. Innerhalb der ersten Lebensjahre ist für die umschriebenen
Entwicklungsstörungen eine hohe Remissionsrate zu beobachten. Bestehen die sprachlichen Auffälligkeiten jedoch bis zum Eintritt in die Schule, ist langfristig eine Beeinträchtigung der soz. E.chancen zu erwarten (von Suchodoletz, 2013). Akt. Schätzungen zur Prävalenz umschriebener
Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen schwanken zw. 5% und 20 %, wobei mehrheitlich von 5% bis 6 % berichtet wird; ca. ein Drittel aller betroffenen Kinder weist dabei schwere Beeinträchtigungen auf. Motorische E.s. persistieren bei Nicht-Behandlung häufig bis in das Erwachsenenalter und ziehen als Folge häufig emot. und Verhaltensstörungen nach sich (Blank et al., 2012). Ca. 5% bis 15 % der Schulkinder in allen Sprach- und Kulturräumen sind von einer spezif. Lernstörung (Lesen, Schreiben und Rechnen) betroffen. Ca. 1 % der Kinder mit einer u. Lese-Rechtschreib-Störung weist schwergradige Defizite auf, sodass diese im Grundschulalter kaum das Lesen oder Schreiben erlernen. Lese-Rechtschreib-Störungen verlaufen sehr stabil und gefährden langfristig die schulische, berufliche und soziale Integration der Betroffenen (Warnke & Baier, 2013). Die Rechenstörung tritt bei ca. 3 bis 6 % aller Kinder auf und erweist sich als bis in das Erwachsenenalter hinein stabil. Chronisch verläuft die Störung insbes. dann, wenn Kinder komorbid eine ADHS oder Lese-Rechtschreib-Störung aufweisen. Jungen sind von allen umschriebener
Entwicklungsstörungen häufiger betroffen als Mädchen.
Diagnostik: Zur Absicherung von Diskrepanz- und Normalitätsannahme ist der Einsatz standardisierter Testverfahren unerlässlich. Neben spezif. Entwicklungstests zur Erfassung von Sprache (z. B. Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter zwischen 5 und 10 Jahren (SET 5-10), Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5)), Motorik (Movement Assessment Battery for Children – second edition (M-ABC 2 dt.), BOT-2) und schulischen Leistungen (z. B. Lesen: Zürcher Lesetest – II (ZLT-II), Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6); Schreiben: Diagnostischer Rechtschreibtest für 1. bis 3. bzw. 4. bis 5. Klassen (DRT 1-3/4-5), Weingartener Grundwortschatz Rechtschreibtest (WRT 1+, WRT 2+, WRT 3+, WRT 4+); Rechnen: Rechenfertigkeiten- und Zahlenverarbeitungs-Diagnostikum für die 2. bis 6. Klasse (RZD 2-6), Deutscher Mathematiktest für erste Klassen (DEMAT 1+/2+/3+/4+)) kommen zusätzlich Intelligenztestverfahren zum Einsatz (z. B. Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence (WPPSI-III), Wechsler Intelligence Scale for Children – Fourth Edition (WISC-IV)). Das allg. Intelligenzniveau soll dabei durch Intelligenzbereiche erfasst werden, die unabhängig von der gestörten Teilleistung sind (z. B. ein sprachfreier Intelligenztest bei Sprachentwicklungsstörung, z. B. Nonverbaler Intelligenztest für Kinder und Erwachsene im Alter von 6;0 bis 40;11 Jahren (SON-R 6-40), Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV)). Eine zusätzliche Untersuchung durch den Kinder- und Jugendarzt ist indiziert, um das Vorliegen einer neurologischen Erkrankung bzw. eine Beeinträchtigung sensorischer Funktionen auszuschließen. Aufgrund des erhöhten Risikos für die Ausbildung von emot. und Verhaltensstörungen ist eine zusätzliche Abklärung solcher Begleit- bzw. Folgesymptome anzuraten. Dies erfolgt i. d. R. durch spezif. Fragebogenverfahren (z. B. Self-Description Questionnaire (SDQ)). Entwicklungsstörungen, umschriebene; Psychotherapie, Entwicklungsstörungen, tiefgreifende; Psychopharmakotherapie.