Essstörungen
[engl. eating disorders], [KLI], sind gekennzeichnet durch schwere Störungen des Essverhaltens. Auffälligkeiten des Essverhaltens finden sich bei einer Vielzahl von psych. und med. Erkrankungen. Die Besonderheiten bei der Essstörung als psych. Störung sind, dass restriktives Essverhalten instrumentell eingesetzt wird, um Gewicht und Figur zu beeinflussen und durch Hungern, Essanfälle und Erbrechen emotionale Zustände zu beeinflussen. Charakteristisch für Essstörungen ist ein Teufelskreis zw. Nahrungsrestriktion und Kontrollverlust in Form von Essanfällen. Die Leitsymptome von Essstörungen sind restriktives Essverhalten, Essanfälle und gegensteuerndes Verhalten in Form von Erbrechen und anderen Verhaltensweisen, welche die Aufnahme von metabolischer Energie behindern. Hinweise auf restriktives Essverhalten sind bspw.: Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln; Auslassen von Mahlzeitbestandteilen wie Beilagen, Nachtisch oder ganzer Mahlzeiten; genaue Bestimmung des Kaloriengehalts von Mahlzeiten, z. B. durch Abwiegen und Benutzung von Kalorientab.; Verwendung von Appetitzüglern oder Nikotin zur Appetitkontrolle (Appetit); Beschränkung auf eine oder zwei Mahlzeiten pro Tag; Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, um Ablenkung beim Essen zu vermeiden oder sozialem Druck ausgesetzt zu sein, mehr zu essen oder aus Scham über das eigene Essverhalten.
Ein Essanfall ist def. als eine Episode von Nahrungszufuhr, bei der die übliche Kontrolle verloren geht oder auch gezielt nicht ausgeübt wird. Bei obj. Essanfällen werden Nahrungsmengen zugeführt, die von ihrer Kalorienzahl den Rahmen einer normalen Mahlzeit deutlich überschreiten. Eine genaue Kaloriengrenze ist nicht def., in den meisten wiss. Arbeiten werden aber 1000 kcal als Grenze angenommen (eine Ausnahme von dieser Regel stellen Mahlzeiten dar, die an Tagen mit intensiver körperlicher Arbeit oder sportlicher Betätigung erfolgen). Episoden von Nahrungsmittelkonsum, die ungeplant oder unerwünscht sind, aber obj. keine aus dem Rahmen fallenden Mengen darstellen, können subj. ebenfalls als Essanfälle wahrgenommen werden, sind aber für die diagn. Eingruppierung als Essstörung nicht relevant. Typischerweise werden bei Esstörungen Nahrungsmittel gegessen, die ansonsten «verboten» sind oder gemieden werden. Bei einer langzeitig bestehenden Esstörung werden Essanfälle häufig genau geplant, das bedeutet, es werden für einen Essanfall geeignete Nahrungsmittel eingekauft und dafür gesorgt, dass niemand den Essanfall stört.
Gegensteuernde Maßnahmen dienen dazu, aufgenommene metabolische Energie rasch wieder aus dem Organismus zu entfernen oder durch Flüssigkeitsverlust eine Gewichtsabnahme zu erreichen: Erbrechen entweder automatisch, nach Reizung des Rachenraums oder unterstützt durch chem. Substanzen, wie Radix Ipecacuanha, Salzlösungen oder auch unterstützt durch Ekelvorstellungen; Missbrauch von pflanzlichen oder chem. Laxanzien oder Diuretika sowie von Schilddrüsenhormonen, um den Grundumsatz zu erhöhen; exzessiver Sport, inkl. exzessiver isometrischer Übungen; exzessive Exposition gegenüber Kälte und Hitze, um Kalorien zu verbrauchen oder Flüssigkeit zu verlieren; Weglassen von Insulin bei Typ-1-Diabetes, um eine Glukosurie zu erzeugen
Folg. Symptome sind klin. charakteristisch und für die Behandlung relevant, werden aber nicht für die Diagnostik eingesetzt: (1)Veränderungen der Aufmerksamkeitslenkung und Checking Behavior: mehrfach tägliches Wiegen, um Veränderungen des Körpergewichts engmaschig zu kontrollieren; Selbstbetrachtung im Spiegel, um die eigene Figur zu überprüfen oder sich zu weiterem Diätverhalten anzuspornen; Abmessen von Körperumfängen mit einem Maßband (Bauch, Oberschenkel, Arme). Gelegentlich werden dazu Markierungen auf die Haut aufgebracht, um immer an derselben Stelle zu messen; Abschätzung der Dicke von Hautfalten (typischerweise mit zwei Fingern); Abtasten der Körperoberfläche (bspw. ob der Beckenkamm oder Rippen tastbar sind); soziale Vergleichsprozesse (z. B. Vergleich des eigenen Körpers mit dem der attraktivsten jungen Frau im Raum). (2)Erworbene Furchtlosigkeit: Fehlendes subj. Erleben von Angst oder Furcht bzgl. des eigenen Überlebens oder der eigenen körperlichen Unversehrtheit trotz schwerwiegender obj. Gefährdung durch Untergewicht oder med. Komplikationen der Esstörung; Bagatellisierung der Gefährdung durch Untergewicht oder Übergewicht. (3)Psychol. und med. Konsequenzen von kontinuierlicher oder intermittierender Nahrungsrestriktion: Kontinuierliche kogn. Beschäftigung mit Nahrung oder nahrungsbezogenen Themen; Amenorrhoe; reduzierte Libido; Kälte- und Wärmeempfindlichkeit; psychomotorische Unruhe oder Apathie; Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Müdigkeit.
Bei etwa der Hälfte der Pat. ist die Esstörung eingebettet in ein komplexes Muster von Komorbidität mit Angststörungen, depressiven Störungen (Depression), Persönlichkeitsstörungen, Sexualstörungen, Substanzgebrauch (Sucht- und Substanzbezogene Störungen) oder somatischen Belastungsstörungen. Esstörungen sind mit einem breiten Spektrum med. Komorbiditäten verbunden, die sich aus Untergewicht, Übergewicht, Gewichtsschwankungen und den Folgen von gegensteuerndem Verhalten ableiten. Alle Subtypen von Esstörungen sind mit einer erheblich erhöhten Mortalität durch Suizid und med. Ursachen verbunden.
Ätiologie: Als ursächlich oder für die Aufrechterhaltung der Störung relevant werden genetische, epigenetische, neurophysiol., neurochem., neuroimmunologische (Immunsystem), neuroendokrine, psychol. und Verhaltensfaktoren diskutiert (Treasure et al., 2010). Ein Konsensus über die Gewichtung dieser Faktoren existiert nicht. Folg. psychol. und psychobiol. Mechanismen bedürfen bes. Beachtung, da sie die Aufrechterhaltung der Esstörung begünstigen: restriktives Essverhalten dient der Stabilisierung des Selbstwertgefühls; erfolgreiches Fasten erzeugt ein Gefühl von Selbstkontrolle und steigert das Selbstwertgefühl; restriktives Essverhalten dient der Emotionsvermeidung und der Erlebnisvermeidung; Emotionsvermeidung und Erlebnisvermeidung reduzieren kurzfristig die Emotionsdysregulation; restriktives Essverhalten und niedriges Gewicht erhöhen über psychol. und psychobiol. Mechanismen das Risiko von Essanfällen; Erbrechen, Laxanzien und exzessiver Sport reduzieren kurzfristig die mit Essanfällen verbundenen aversiven emot. und körperlichen Folgen; Stressbelastung und die damit verbundenen Emotionen erhöhen das Risiko eines Essanfalles; die mit gestörtem Essverhalten verbundene physiol. Dysregulation erhöht langfristig über psychobiol. Mechanismen die emot. Dysregulation.
Klassifikation, Prävalenz, Verlauf: In der Tab. sind die Subtypen von Esstörungen gemäß DSM-5 aufgeführt. Esstörungen werden nach ICD-10 unter F 50.x (s. Anhang I) klassifiziert. Bei Frauen beträgt die Lebenszeitprävalenz der Anorexia nervosa etwa 1 bis 4%, der Bulimia nervosa etwa 1 bis 2%, der Binge-Eating-Störung etwa 1 bis 4%. Bei Männern beträgt die Lebenszeitprävalenz von Esstörungen etwa 0,3 bis 0,7%. Anorexia nervosa und Bulimia nervosa beginnen am häufigsten in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter, die Binge-Eating-Störung im jungen oder mittleren Erwachsenenalter.
Diagnostik: Mögliche Screening-Fragen zur Identifikation von Esstörungen sind: Sind Sie mit Ihrem Essverhalten zufrieden? Haben Sie ein Essproblem? Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Gewichts oder Ihrer Ernährung? Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl? Machen Sie sich Gedanken wegen Ihrer Figur? Essen Sie heimlich? Übergeben Sie sich, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen? Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können? Wenn sich aus Screening oder anderen Beobachtungen der Verdacht auf eine klin. relevante Esstörung ergibt, kann dies durch ein strukturiertes Interview bestätigt werden: Das SKID erfasst alle im DSM aufgelisteten diagn. Kategorien und die Komorbidität. Gleiches gilt für das DIPS und die internat. Diagnosechecklisten. Bei Eating Disorder Examination (EDE) und SIAB (Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen nach DSM-IV und ICD-10 (SIAB)) handelt es sich um Experteninterviews zur Erfassung der diagn. Merkmale und der spezif. Psychopathologie von Essstörungen. Die Fragebögen Eating Disorder Inventory-2 (EDI-2), Fragebogen zum Essverhalten (FEV), Eating Disorder Examination (EDE) sind zur Erfassung von Symptomintensität hilfreich.
Therapie: Binge-Eating-Störung und Bulimia nervosa können sowohl mit Psychoth. (Essstörungen, Psychotherapie) wie mit Pharmakotherapie (Essstörungen, Psychopharmakotherapie) erfolgreich behandelt werden. Für eine erfolgreiche Behandlung der Anorexia nervosa mit Pharmakotherapie gibt es keine ausreichende Evidenz, dagegen beschränkte Evidenz für Psychoth. Die meisten Evidenzen liegen dabei für Methoden aus der Verhaltenstherapie vor. Essstörungen, Präventionsansätze.