Kant, Immanuel
(1724–1804), [HIS, PHI], 1755 Promotion in Königsberg, Hauslehrer, 1766–1772 Unterbibliothekar der königlichen Schlossbibliothek, 1770 Professor für Logik und Metaphysik. Kant hat Königsberg und Umgebung nie verlassen, lebte jedoch keineswegs weltfremd, sondern war durch zahlreiche Besucher und Gäste bei seinem Mittagessen sowie durch Korrespondenz vielseitig über Geschehnisse und Ideen informiert. Durch seine drei Kritiken: Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790) wurde Kant zu einem der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit, nicht nur in Dt. Seine wichtigste Schrift für die Ps. ist die Anthropologie [gr. Lehre vom Menschen] in pragmatischer Hinsicht (1798). Kant hat sich an versch. Stellen seines Werks über die Möglichkeiten und Grenzen der Ps. geäußert, sodass isolierte Zitate zu Missverständnissen führen können.
Insbes. die Strömung der dt. Aufklärung ist mit Kants Namen verbunden: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» In Kants Arbeitszimmer hing ein Portrait von Jean Jaques Rousseau. Mit zwei seiner Schriften im Grenzgebiet von Philosophie und Theologie geriet Kant seit 1785 in einen langjährigen Konflikt mit der preußischen Zensurbehörde, denn der Minister Wöllner drohte im Wiederholungsfall mit Amtsenthebung wegen der Herabwürdigung der christlichen Lehre. Mit der Weisung, religiöse Schriften zu unterlassen, durfte Kant bis 1796 weiter lehren.
Rationale oder empirische Ps., exakte und empirische Wissenschaft:In seiner Kritik der reinen Vernunft legte Kant dar, dass es keine reine Vernunfterkenntnis, keine «rationale» Ps. eines erkennenden Selbst oder Ich, geben kann. Er lehnte die Ableitung psychol. Auffassungen aus der Metaphysik entschieden ab. Die Ps. kann nur dem Leitfaden der Erfahrung folgen und muss sich «in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann.» In der Vorrede zu Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft erläuterte er seinen strikten Wissenschaftsbegriff: «Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.» Die Phänomene des inneren Sinns können allein in der Dimension der Zeit erfasst werden, sie lassen sich «nur durch bloße Gedankenteilung voneinander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wieder verknüpfen, noch weniger aber ein anderes denkendes Subjekt sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen lässt, und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt.» Wesentlich sind die Eindeutigkeit, Gewissheit und Beständigkeit der Ergebnisse. Eine Experimentallehre der Ps. muss weit hinter den eigentlichen Naturwissenschaften zurückbleiben, denn die notwendige Zergliederung der inneren Erfahrung erfolgt nur gedanklich und kann deren Bestandteile nicht wirklich isolieren. Ohne Messung und math. Formulierung ist jedoch keine exakte Wissenschaft möglich. Die Ps. kann deshalb keine exakte, sondern nur eine beschreibende Wissenschaft sein.
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: Kants oft zit. allg. Def. anthropologischer Grundfragen (Anthropologie, philosophische) steht in seiner Logik: «Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung lässt sich auf folg. Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muss also bestimmen können: 1. die Quellen des menschlichen Wissens, 2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich 3. die Grenzen der Vernunft.»
In der Vorrede zu seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht unterscheidet Kant die physiol. Anthropologie, die auf die Erforschung dessen geht, was die Natur aus dem Menschen macht, von der pragmatischen Anthropologie, die das untersucht, «was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.» Hier fasste Kant kurz, aber prägnant, die meisten seiner methodenkritischen Einwände zus. (in heutigen Begriffen): methodenbedingte Reaktivität, Einfluss von Gewohnheiten und Einstellungen, subj.Alltagstheorien, Konfundierungen, Sinnestäuschungen und konstruktive Bearbeitungsvorgänge der Wahrnehmung, Vpn-Verhalten, Zweifel an Durchführungs-Objektivität und inhaltlicher Gültigkeit, Compliance und Reaktanz. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist zunächst auf innere Erfahrung gegründet, doch enthalten die ersten Kapitel viele Beobachtungen anderer, allerdings sind die Begriffe Beobachtung und Verhalten nur an wenigen Stellen zu finden, eher geht es um Gewohnheit, Haltung, Benehmen und Betragen, Tun und Lassen. Die Begrenzung auf innere Erfahrung ist nicht strikt gemeint, denn es geht Kant auch um Menschenkenntnis und den Menschen als «Weltbürger». So verlangt er, auch andere Quellen der Menschenkenntnis zu benutzen. Dazu gehören u. a. Reiseberichte, die Weltgeschichte, Biografien, Schauspiele und Romane, die trotz ihrer Phantasien doch in den Grundzügen nach dem wirklichen «Tun und Lassen» der Menschen geformt und in pragmatischer Hinsicht wichtig sind, und die Anthropologie gewinnt hier Regeln für die «mannigfaltigen Erfahrungen, die wir an dem Menschen bemerken.» Es folgen Themen der Allgemeinen Psychologie (im heutigen Sinn), der Charakterkunde (Charakterologie), Sozialpsychologie, Psychopathologie, Gesundheitspsychologie und auch Anfänge anderer psychol. Teildisziplinen. Auf 300 Seiten werden abgehandelt: Bewusstsein, Vorstellungen, Sinnesempfindungen und Wahrnehmungsps., Denken, Einbildungskraft und Erkenntnisvermögen, Gedächtnis, Sinnestäuschungen und Illusionen, Traum, Störungen der Wahrnehmung und des Denkens. Kant spricht von dunklen Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein. Er schildert die Originalität des Denkens und schreibt über Geist und Witz. Hier steht auch die oft zitierte Unterscheidung zw. Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Es folgen Theorien über Lust und Unlust, Bemerkungen über Mode- und Kunstgeschmack, Einteilungen der Begierden, Affekte und Leidenschaften, Tugenden und Untugenden, Bemerkungen zu Geselligkeit und Wohlleben. Die Anthropologische Charakteristik schildert das Naturell und das Temperament der Menschen, d. h. die Naturanlagen und den moralischen Charakter, und die Unterscheidung von Sinnesart und Denkungsart. Dazu gehören Charakterformen und die vier traditionellen Temperamentstypen: Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker. Diese Charakterkunde schildert außerdem Unterschiede zw. den Geschlechtern, zw. Völkern und Rassen und spekuliert über mögliche Zus.hänge mit der Geografie, d. h. Landschaften, Klima, Lebensbedingungen. Kant interessiert sich für Gemütskrankheiten (insbes. Hypochondrie, Manie, Dementia) und an anderer Stelle, in einem Brief an Hufeland, beschreibt er ausführlich Maßnahmen, vor allem solche der Selbstkontrolle, «durch bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein». Er betonte die Selbstverantwortung für den eigenen Körper und erläutert die gesundheitlich pos. Wirkungen der kontrollierten Atmung, des gesundheitsbewussten Lebens hinsichtlich Essen und Trinken, von gesunder Diät, Bewegung und Schlaf. V. a. dieser Teil der Anthropologie ist auf praktische, psychol. und päd. Anwendung gerichtet. Im letzten Kapitel, über den Charakter der Gattung, fasste Kant sein Menschenbild zus.: «Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.» Die Glückseligkeit als die Erfüllung all unserer Neigungen im genauen Ebenmaß der Sittlichkeit macht das höchste Gut der Welt aus. Der Mensch, das mit Vernunftfähigkeit begabte Tier, befreit sich aus der Vormundschaft der Natur und gelangt über mehrere gesellschaftliche Entwicklungsstadien in den Stand der Vernunft und der Freiheit – seine Bestimmung ist das Fortschreiten zur Mündigkeit und zur Vollkommenheit, sodass sich alle Anlagen völlig entwickeln können.
Kant hat das Gebiet und auch die Methodik der Ps. neu bestimmt. Die Ps. ist nicht mehr Teil der Metaphysik, in der sie früher als Seelenlehre abgehandelt wurde, sondern eine empir. Wiss. Sie bildet den Hauptinhalt der auf Erfahrung beruhenden Anthropologie und erhält damit eine wichtige pragmatische Wende, denn sie öffnet den Zugang zu dem, was der Mensch moralisch und aufklärerisch, päd., gesundheitspsychol. usw. aus sich macht. Auch ohne den Rang einer eigentlichen, exakten Naturwiss. gibt es praktisch brauchbares Wissen. Kant behauptete keineswegs, Ps. sei überhaupt keine Wissenschaft, sondern zeigte die erkenntnistheoret. und meth. Grenzen dieser Erfahrungswiss. auf. Dennoch ist Kants Werk, das wegen dieser empir. und zugleich methodenkritischen Grundhaltung als erstes Lehrbuch der empir. (und praktischen) Ps. angesehen werden könnte, in der späteren Ps. kaum beachtet worden.