Moralpsychologie
[engl. moral psychology; lat. mores Sitten, Gewohnheiten], [EM, KOG, SOZ] Bereich der Ps., in dem die moralische Entwicklung von Individuen zu beschreiben, verstehen und verändern versucht wird. Die Moralpsychologie ist ein Standpunkt, von dem aus soziale Kognitionen, Operationen und Kooperationen auf ihre Gerechtigkeitsstruktur hin befragt werden. Als Rahmenbedingungen wirken die ethischen und grundrechtlichen Prinzipien, die das Zusammenleben der Gesellschaft bestimmen. Menons Frage an Sokrates: «Ist Tugend lehrbar?» wurde in der Philosophiegeschichte vielfältig zu beantworten versucht (Platon, Kant, Rawls). In der Ps.-Geschichte wurde diese Frage durchweg entwicklungspsychol. gesehen. Parallel zur Intelligenz versuchten Moral-Tests schon zu Anfang des 20. Jhd., den moralischen Charakter quant. zu erfassen (Reue, Schuld, Lüge, Gesinnung).
Die Frage der Moralpsychologie, worauf die Achtung des Individuums vor den sozialen Normen der Gesellschaft beruht, beantwortet die naiv-ps. Theorie mit dem zeit- und situationsstabilen «moralischen Charakter» (Grundtugenden wie Treue, Ehrlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit: Hartshorne & May, 1928). Behavioristische Lerntheorien (Behaviorismus) (Aronfreed, Berkowitz) betonen die Angst vor Strafe, wenn Versuchungen nicht widerstanden wurde. Nach Freud wirkt die Internalisierung früher Vorbilder disziplinierend, zivilisierend und als Modell. Durkheim hebt die Anpassung an kult. und ethisch relative Standards und Gruppennormen hervor. Nach der strukturell-genetischen Theorie (Strukturgenese) (Baldwin, Mead, Piaget, Kohlberg) entwickeln sich moralisches Bewusstsein und moralisches Handeln in (den gesamten Lebenslauf umspannender) Auseinandersetzung mit den interaktiven Problemen einer sich wandelnden sozialen Umwelt zu den ethischen Prinzipien idealer Kooperation (z. B. Gerechtigkeit: Rawls, Kohlberg – kommunikative Ethik: Habermas, Haan – moralisches Argumentieren: Miller, Oser). Diese Entwicklung sei eine kogn.-affektiv gesteuerte, zielorientierte Äquilibration von Individuum und Gesellschaft. Die nicht umkehrbaren, qual. unterschiedlichen und streng sequenziellen Entwicklungsstufen sollen kulturunabhängig verlaufen, seien aber förder- und störbar.