Nationalsozialismus, Psychologie im
[engl. psychology in national socialism], [HIS], kurz nach der sog. Machtergreifung Ende Januar 1933 traten durch entspr. Gesetzgebung der nationalsozialistischen Regierung rassistische Ziele in den Vordergrund. So verfügte das sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933, Beamte «nicht arischer Abstammung» seien in den Ruhestand zu versetzen. Faktisch betraf dieses Gesetz aber auch alle anderen Personen im Öffentlichen Dienst. In der Ps. wurde hierdurch ein Drittel aller Ordentlichen Prof. mit drastisch reduzierten Bezügen in den vorzeitigen Ruhestand entlassen bzw. amtsenthoben: Gelb (Halle), Katz (Rostock), Peters (Jena), William Stern (Hamburg) und Wertheimer (Frankfurt). Ferner wurde Selz amtsenthoben, der Professor an der Handelshochschule Mannheim war und dort 1929/30 auch als Rektor amtiert hatte. Selz emigrierte in die Niederlande und wurde nach der Besetzung der Niederlande nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Katz ging nach England, bekam schließlich eine Professur in Stockholm. William und Clara Stern zogen zunächst in die Niederlande, dann in die USA. Betroffen von den rassistischen Beamtengesetzen waren auch die ao. Prof., unter ihnen Curt Bondy (Göttingen), Jonas Cohn (Freiburg), Richard Hellmuth Goldschmidt (Münster), Erich von Hornbostel (Berlin), Lewin (Berlin), Oesterreich (Tübingen), Erich Stern (Gießen) und Heinz Werner (Hamburg). Lewin hatte 1932/33 eine Gastprofessur in den USA, er erfuhr von der Machtergreifung auf der Heimreise. Als ehemaliger Kriegsfreiwilliger konnten sich Lewin und einige seiner Kollegen zunächst Hoffnungen auf ihre Duldung machen, denn das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums enthielt einen «Frontkämpferparagraphen»: Wer im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, sollte von der Entlassung in den einstweiligen Ruhestand ausgenommen werden. Diese Sonderregelung wurde später gestrichen. Lewin wurde beurlaubt, emigrierte in die USA, erhielt auch ein Angebot aus Palästina, das er jedoch nicht annahm. Ein tragisches Schicksal hatte der ao. Prof. Kurt Huber (1893–1943), der einen Lehrauftrag für ps. Methodenlehre wahrnahm. Er zählt durch seine Beteiligung an der «Weißen Rose» zum Widerstand. Huber wurde vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und ermordet. Im Widerstand arbeitete auch Düker, der seine wiss. Karriere aufgeben musste und bei Kriegsende im KZ Sachsenhausen inhaftiert war (Geuter, 1984, Graumann, 1985).
Zu den österreichischen Psychologen, die nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 aus politischen und rassistischen Gründen zur Emigration gezwungen wurden, gehörten Karl und Charlotte Bühler (Allesch, 2012). Charlotte Bühler war nach damaliger Rassenideologie «Halbjüdin». Karl Bühler wurde kurze Zeit inhaftiert; es blieb für das Ehepaar Bühler nur die Emigration in die USA, wo beide zunächst Schwierigkeiten hatten, Fuß zu fassen. Die wenigen noch verfügbaren Stellen zur Zeit der Wirtschaftskrise 1933 waren von den aus Dt. kommenden Emigranten besetzt worden. Diese Schwierigkeiten galten z. B. auch für Jahoda, die zeitweise Gelegenheitsjobs wahrnehmen musste. Die Mitarbeiter Brunswik und Lazarsfeld waren schon vor dem «Anschluss» emigriert. Verfolgt wurde aus rassistischen Gründen eine große Zahl von Psychoanalytikern, die in Österreich oder in Dt. tätig waren (Lockot, 1985, Mühlleitner & Reichmayr, 1992).
Die Reaktion der Deutschen Gesellschaft für Psychologie auf den Machtwechsel: Im Jahr 1931 hatte in Hamburg erfolgreich der 12. Kongress der DGPs (Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)) stattgefunden, den William Stern ausgerichtet hatte. Der nächste Kongress war für April 1933 in Dresden mit Prof. Gustav Kafka als Gastgeber vorgesehen. Es schieden jedoch William Stern, David Katz, Karl Bühler und Gustav Kafka aus dem Vorstand aus. Vielleicht wurden ihre Namen einfach gestrichen; von Kafka wurde berichtet, er sei aus Protest zurückgetreten, nachdem bekannt geworden sei, dass jüdische Kollegen von der Teilnahme am Kongress ausgeschlossen werden sollten (Traxel, 2004). Diese Vorgänge spielten sich bereits vor dem Inkrafttreten der o. g. rassistischen Beamtengesetze ab. Ein neuer Vorstand bildete sich mit Felix Krueger als neuem Vorsitzenden. Zum neuen Vorstand, der in der Folgezeit nach dem Führerprinzip vom Vorsitzenden gebildet wurde, gehörten weitere Personen, die sich mehr oder weniger direkt zum Nationalsozialismus bekannten. Als der Kongress dann im Herbst 1933 in Leipzig stattfand, erwähnte der neue Vorsitzende in seiner Eröffnungsrede seinen Amtsvorgänger Stern nicht einmal mehr, dagegen bez. er Adolf Hitler als weitschauenden, kühnen und gemütstiefen Kanzler.
Köhler blieb der einzige Hochschullehrer für Ps., der öffentlich gegen die Entlassung jüdischer Wissenschaftler protestierte. In einem sehr vorsichtig verfassten Appell, der als Aufsatz unter dem Titel «Gespräche in Deutschland» am 28. April 1933 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien, argumentierte er gegen die Entlassung jüdischer Wissenschaftler, insbes. des Nobelpreisträgers James Franck. Nennenswerten Widerstand konnte Köhlers mutiger Appell leider nicht entfachen, obwohl er auf seinen Artikel mehr als 120 durchweg zustimmende Briefe erhielt (Jaeger, 1993). Köhler wehrte sich auch gegen Übergriffe nationalsozialistischer Studentengruppen, dann trat er von seiner Professur zurück und emigrierte in die USA.
Wehrmachtspsychologie und Aufschwung der Profession: Nachdem die nationalsozialistische Regierung den Versailler Vertrag offen gebrochen hatte, erfolgte ein beispielloser Ausbau der Wehrmacht und mit ihr der Wehrmachtps. 1938 gab es für Psychologen in Heer und Marine 170 Planstellen (Geuter, 1984). Die Luftwaffe beschäftigte 1942 etwa 150 Psychologen. Diese hatten fast ausschließlich diagn. Aufgaben. Im Wesentlichen gab es zwei Arten der Untersuchungen, die Offiziersauslese und Spezialuntersuchungen (z. B. für Horchtrupps). Die psychol. Untersuchungen bestanden aus standardisierten Tests. Hinzu kamen ausdruckpsychol. und charakterologische Gutachten. Diese wurden besonders gefördert von dem Wissenschaftlichen Leiter der Wehrmachtps., Dr. habil. Max Simoneit.
Gab es bis weit in die NS-Zeit kein klares Berufsbild und dementsprechend auch keinen Studiengang für Psychologen, so erforderte der Bedarf an Wehrmachtpsychologen die Einrichtung einer entspr. Ausbildungsordnung. In Form der Diplom-Prüfungsordnung für Psychologen, die 1941 in Kraft trat, war ein entscheidender Schritt in Richtung einer Professionalisierung der Ps. getan. An dieser Entwicklung war der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie durch ihren Vorsitzenden Oswald Kroh aktiv beteiligt. Kenntnisse in Diagnostik und Wehrmachtsps. wurden obligatorisch. Die Psychol. Institute waren durch die Anforderungen der Diplomprüfungsordnung meist überfordert. Erst nach Kriegsende gewann die Prüfungsordnung an Bedeutung und galt bis 1973. In jedem Fall stand dem Aderlass der dt. Ps. und dem damit verbundenen Verfall der Forschungsqualität durch die Rassengesetze in mehreren Bereichen ein quant. Aufschwung der Ps. gegenüber (Geuter, 1984).
Die nähere Betrachtung von Berufungsverfahren und Biografien von Psychologen in der NS-Zeit macht deutlich, dass es zw. Ministerien, dem Amt Rosenberg und anderen Organisationen wie der NSDAP durchaus Interessenkonflikte gab. Diese eröffneten einzelnen Personen gelegentlich Entwicklungsmöglichkeiten. So konnte z. B. Bender an der Reichuniversität Straßburg Karriere machen und die dortige Bibliothek kurz vor Auflösung der Universität in Sicherheit bringen (Hausmann, 2006, Schellinger, 2012).
Einige Hochschullehrer stellten ihre Fähigkeiten in den Dienst des neuen Systems. Dies geschah in praktischer Weise z. B. durch Entwicklung von Ausleseverfahren, aber auch in theoretischer Hinsicht. Pfahler (1879–1976) verband z. B. seine schon früher entwickelte eklektische Typologie mit der nationalsozialistischen Rassenlehre; Jaensch passte seine früher entwickelte Typologie in der NS-Zeit auf die völkische Lehre an. Dessen Nachfolger war Gert Heinz Fischer, ein treuer Schüler von Jaensch – auch in ideologischer Hinsicht. Soweit erkennbar, waren diese Anpassungsleistungen hier und da für die Verfasser karriereförderlich, sie führten aber nicht zu einer Modifikation oder wiss. Stützung nationalsozialistischer Ideologie. Die nationalsozialistische Regierung hat weder die Ps. als Disziplin bekämpft, obwohl dies gelegentlich behauptet wurde (Wellek, 1960), noch sie für ihre Ziele vereinnahmt. Obwohl sich einige Psychologen der Nazi-Regierung anboten, konnten bislang kaum besondere Aktivitäten von Psychologen in der nationalsozialistischen Propagandaarbeit, bei Deportationen oder in Konzentrationslagern nachgewiesen werden. Allerdings war Hetzer kurze Zeit im besetzten Polen an der Auslese von Kindern in sog. Arisierungsprozesse involviert (Herrmann, 2012); auch war der Psychologe und Psychoanalytiker Igor Caruso an psychol. Gutachten über Kinder beteiligt, die in Kinder-Euthanasie-Programmen im «Spiegelgrund» (Wien) ermordet wurden (Benetka & Rudolph, 2008). Insges. zeigt eine genauere Betrachtung der Biografien von Psychologen in der NS-Zeit eine erhebliche Vielfalt von Lebensläufen und Verhaltensweisen, sodass sich eine einfache Typenbildung verbietet (Herrmann & Zeidler, 2012).
Im Jahr 1942 wurde die Heeres- und Luftwaffenps. aufgelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Sachverhalt als Bestätigung dafür angesehen, die Ps. als Disziplin sei von den Machthabern verfolgt worden. Eine solche Argumentation erscheint aber aus heutiger Sicht als nicht plausibel. Der Hauptgrund für die Auflösung muss wohl darin gesehen werden, dass eine differenzierte Prognose für die Kriegstauglichkeit nicht mehr nötig war. Die Verluste bei Heer und Luftwaffe waren außerdem inzwischen so groß, dass eine weitere Auslese kaum sinnvoll erschien.
Zur Situation der Psychoanalyse: Schriften von Freud wurden schon am 10. Mai 1933 in Berlin mit dem sog. Feuerspruch «Gegen die seelenzerstörende Überschätzung des Sexuallebens – und für den Adel der menschlichen Seele» öffentlich verbrannt. Die Ablehnung der Psychoanalyse erfolgte überwiegend aus rassistischen Gründen. Freud verblieb, wie vielen seiner jüdischen Schüler, nach dem Anschluss Österreichs nur die Emigration, um einem noch härteren Schicksal zu entgehen. Das Wiener Psychoanalytische Institut und seine Einrichtungen wurden liquidiert. Psychoanalyse wurde allerdings im Dritten Reich weiterhin genutzt. Es wurde in Berlin 1936 das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie gegründet, dessen Aufgabe die Entwicklung einer dt. Seelenheilkunde war. In diesem Institut wurden die versch. tiefenpsychol. Richtungen zus.gefasst und unter med. Leitung praktiziert (Lockot, 1985).
Kapitulation, Entnazifizierung und Neubeginn? Sehr bald nach dem Kriegsende nahmen die Universitäten unter provisorischen Bedingungen ihren Lehrbetrieb wieder auf. Die vier Besatzungsmächte führten versch. Entnazifizierungs- und Umerziehungsprogramme ein. Nur sehr wenige Hochschullehrer der Ps. wurden durch Entnazifizierung von ihren Ämtern enthoben. Unter ihnen waren Pfahler, Fischer, Kroh und Deuchler. Mehrere zuvor offenbar überzeugte Nationalsozialisten wurden v. a. in den Westzonen bzw. Westdeutschland in das Hochschullehreramt (wieder)eingestellt (so z. B. Sander). Viele, darunter auch Hofstätter, forderten öffentlich, man solle auch die Taten der Nazizeit als verjährt behandeln. Die nur halbherzig erfolgte Säuberung des Lehrkörpers in den Westzonen bewirkte eine gewisse personelle und inhaltliche Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Nazi-Zeit (sog. Kontinuitätsthese). Die seit 1941 bestehende, fast unveränderte Diplomprüfungsordnung ist ein Beleg hierfür. Eine nennenswerte Veränderung der Ps. in Forschung und Lehre unter dem Einfluss amerik. und westeurop. Einflüsse gab es in Dt. erst mit einer nachfolgenden Generation von Hochschullehren Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre. Die Kontinuitätsthese lässt allerdings manche heute fast vergessenen Brüche in der Nachkriegszeit Deutschlands (Lück & Sewz, 2003) und Österreichs (Allesch, 2012) verschwinden.
In Hamburg bildete sich bereits 1946 der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP). Die Mitglieder waren überwiegend ehemalige Wehrmachtpsychologen, die nun wiss. Nachholbedarf hatten und sich beruflich neu orientieren mussten. Kurze Zeit später wurde die Deutsche Gesellschaft für Psychologie wiederbegründet (Lück, 2004). Ein Versuch der Vereinigung zu einer Gesellschaft analog der American Psychological Association scheiterte 1958.
Fazit: Im internat. Vergleich hat die Ps. als Wiss. und Disziplin in Dt. zur Zeit des Nationalsozialismus erhebliche Qualitäten eingebüßt und den Anschluss an das internat. Niveau verloren. Die Zwangsemigration bedeutender Psychologen wie Lewin, Selz, Stern, Köhler und Wertheimer war ein Grund für diesen Qualitätsverlust, ein anderer war das wissenschafts- und theoriefeindliche Klima in der NS-Zeit. Eine «Gleichschaltung» i. S. einer Knebelung der Ps. gab es in der Nazizeit nicht, wohl gab es weitreichende Diskriminierungen aus rassistischen und politischen Gründen. Widerstand leisteten wenige Psychologen, meist aber nur zaghaft und ohne breite Nachahmung. Ebenso gab es Fachvertreter, die sich in ihren Theorien und Forschungsinteressen den Machthabern anschlossen, andere hielten sich von Ideologien fern. Quantitativ gesehen gab es einen Aufschwung, insbes. der angewandten Ps. Dieser beschleunigte die Professionalisierung der Ps.