Politische Psychologie
[engl. political psychology], [SOZ], ein Zweig der wiss. und Angewandten Ps., der sich mit den psychol. Bedingtheiten und Folgen pol. Geschehens befasst. Die politische Psychologie erforscht – interdisziplinär mit der pol. Soziologie und anderen Wissenschaften – den personalen Faktor pol. Verhaltens von Gruppen und Individuen: Prozesse der Motivation, Interaktion, Internalisation, Sozialisation, Sozialisierung, Individuation, Entscheidung (Entscheiden). Damit leistet sie fundamentale Beiträge für die Erforschung von Einstellungen, Meinungsbildung und Vorurteilen, für die Friedens- und Konfliktforschung (Friedenspsychologie, Konflikt, sozialer), für pol. Planung und Werbung, für pol. Lagebeurteilung und Prognostizierung und v. a. auch für die pol. Bildungsarbeit. Außer mit den indiv. Bedingtheiten pol. Verhaltens (z. B. Grundeinstellung, Interesse, Triebstruktur, Beeinflussbarkeit, Gehemmtheit, Mutdisposition, Kontaktbereitschaft, Rigidität) befasst sich die politische Psychologie auch mit überpersonalen Erscheinungen von pol. Relevanz (Gesellschaftsstruktur, Machtverschiebungen, pol. Strömungen, geltende Normen, Unterdrückungen, kollektive Entscheidungen), denn es bestehen psychol. Wechselwirkungen in beiden Richtungen. Als wiss. Erkenntniszweig ist die politische Psychologie als solche in pol. Hinsicht tendenz- und normfrei, d. h. nur der Wirklichkeitserhellung verpflichtet.
Diese Wertneutralität als wiss. Prinzip wurde der politischen Psychologie allerdings eine Zeit lang bestritten: Die einen hielten sie im Hinblick auf die unbewusste pol. Befangenheit jedes Forschenden für faktisch unmöglich (man würde sie ihm stets unterstellen), die anderen erblickten in einem ideologischen Engagement den einzigen Sinn pol.-psychol. Forschung und Lehre: politische Psychologie habe von vornherein im Dienst pol. Zwecke zu stehen (z. B. Veränderungen gesellschaftlicher Zustände, Beseitigung von Ungerechtigkeiten, Bekämpfung von Kriegsursachen). Aus dem Attribut «politisch» darf indes keine Sonderstellung dieser Gegenstandsspezialisierung der Ps. herausgelesen werden. Qua Wissenschaft hat sie – ebenso wie jede andere Fachspezialisierung – größtmögliche Objektivität ihrer Erkenntnisse anzustreben; darüber hinaus – qua Anwendung – kann sie allen jenen durch Aufklärung über ps. Erkenntnisse behilflich sein, die sich um das Wohl der Menschen bemühen – etwa um eine menschenwürdige Entfaltung i. S. von Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes und i. S. der UN-Charta der Menschenrechte; inwieweit auch pol. Partialinteressen zu unterstützen sind, das unterläge jew. der Gewissensverantwortung des einzelnen Psychologen. «Darüber hinaus» besagt: Mit der Einbeziehung eines Anwendungszweckes für die pol.-psychol. Erkenntnisse entsteht – ebenso wie bei allen anderen angewandten Wissenschaften – eine zusätzliche Verantwortlichkeit, die über rein wiss. Verantworten hinausgeht. Denn die Gefahr eines Missbrauchs pol.-psychol. Erkenntnisse wächst an, je bekannter z. B. indirekte («unterschwellige») pol. Verführungsmethoden werden.
Zur Diagnostik verwendet die politische Psychologie die gleichen Methoden wie die übrige Individual- und Sozialps. Allerdings verursacht die bes. Komplexität des pol. Verhaltens und Meinens bes. diagn. Schwierigkeiten, da einerseits geäußerte Meinungen und Stellungnahmen gerade auf pol. Gebiet sehr oft auf Selbsttäuschungen, auf Suggestion, auf Unbewusstem und Verdrängtem beruhen – und andererseits partielle faktorenanalytische Messungen und Korrelationen sehr oft nicht den komplexen, ganzheitlichen, genetisch bedingten und situativen Hintergründen eines indiv. Verhaltens oder Meinens gerecht zu werden vermögen. Wegen dieser vielschichtigen und fluktuierenden Komplexität erweist sich die Erfassung bzw. Operationalisierung pol. Grundeinstellung – «Mentalität», Dynamik, Mündigkeit, pol. Reife, persönliches Gewissen, Verantwortungsbewusstsein u. ä. psychol. Sachverhalte – als bes. anspruchsvoll, sodass auch häufig die Verhaltensbeobachtung zur Anwendung kommt. Als bes. wegweisend auch für dt. Untersuchungen erwies sich z. B. die noch vor Kriegsende in den USA begonnene Herausarbeitung des Typus autoritäre Persönlichkeit (Adorno, 1964). Autoritarismus war seither als pol.-relevante Haltung immer wieder Gegenstand psychol. Abhandlungen mit Differenzierungen und Modifizierungen, die etwa die Vorurteilsanfälligkeit, den Dogmatismus (Rokeach, 1960), die Aggressivität (Schmidt-Mummendey, 1973) oder andere pol.-relevante Dominanten einer Persönlichkeitsentwicklung auf ihre Bedingtheiten und Wirkungen hin untersuchten. Aufsehen erregte eine exp. gewonnene Erkenntnis über den Autoritätsgehorsam (Milgram, 1967). Über die pol. Sozialisation als Entwicklungs- und Reifungsprozess und damit als bes. problemhaltigen Gegenstand erzieherischer Aufgaben handeln zahllose Veröffentlichungen der 1960er- und 1970er-Jahre (Baeyer-Katte, 1972). Daneben werden typische Zeiterscheinungen auf ihre psych. Komponenten hin untersucht, so etwa der Komplex der Angst, des Hasses, der Konformitätsneigung, der Emanzipationsströmung – der Wandel von Parteipräferenzen und dessen Motivationen (Lane, 1962) oder auch typ. Haltungsausprägungen wie Konservatismus und Radikalismus (Eysenck, 1968).
In steigendem Maße sieht sich die pol. Bildungsarbeit in Schulen und anderen Bildungsstätten genötigt, pol.-psychol. Bedingtheiten in Rechnung zu stellen. Zur Vermeidung von Meinungsbeeinflussung, von pol. Indoktrination, geht es hier v. a. um das Befähigen zu kritischer Reaktivität gegenüber Meinungszwängen bei gleichzeitig selbstkritischem Denken, um das Immunisieren gegen pol. Verführung, um das Freisetzen spontaner pol. Beteiligungs- und Mitverantwortungsimpulse und um das selbstständige Erarbeiten selbstverantwortlicher pol. Stellungnahmen (s. a. Friedensjournalismus). Welche Erziehungseinwirkungen sind auf diesem besonderen Felde nicht nur «legitim», sondern auch entwicklungsadäquat, welche inadäquat? (Roloff, 1972, 1975).
Eine differenzierte Aufzählung der Anwendungsgebiete der politischen Psychologie bis zu den 1960er-Jahren findet sich in Band 1 der Schriftenreihe Politische Psychologie; in den USA erschien 1973 ein Handbook of Political Psychology, das über den neueren Stand dieser Wissenschaft in den USA und einigen Ländern (außer Dt.) unterrichtet. politische Partizipation, Politikverdrossenheit, Selbstkonzept eigener politischer Kompetenzen.