Stottern

 

[engl. stuttering; lat. balbutire stammeln, lallen], [BIO, KLI, KOG], ein weder homogener noch klar abzugrenzender Formenkreis einer Sprechstörung, die sich als häufige Unterbrechung des Redeflusses [engl. fluency disorders] (nicht zu verwechseln mit Sprachpausen) äußert. (1) Die vielfältigen Symptome des Erscheinungsbildes zeigen klonische (rasche Phonem-, Silben-, Wortwiederholungen; Iteration), tonische (Diskoordination und Verkrampfung der Artikulations-, Phonations- und Respirationsmotorik; vor und bei Sprecheinsatz = Initial-Stottern, zw. Phonemen oder Morphemen = Binnen-Stottern; mangelhafte motorische Selektivität, Mitinnervation der Gesichts-, Hals-, Rumpf- und Extremitätenmuskulatur; Sprechen während Inspiration oder mit Residualluft) und gemischte Formen. Häufig kommen situative Unterschiede ohne interindiv. festlegbare Regel hinzu; schließlich kommen Kaschierungsversuche oder aggressives Einsetzen der Symptome, Sprechangst oder Verzicht auf Kommunikation und andere sekundäre Störungen hinzu. (2) Hinter den Stotter-Phänomenen stehen Dysregulationen der neurophysiol. Prozesse, die mit der Synchronisation, Rhythmisierung und Tempogestaltung sowie mit der Initiierung und Stopp-Regelung der sequenziell-hierarchischen Sprach-, Sprech-, Stimm- und Atemverläufe i. R. der Kommunikation befasst sind und die gleichzeitig in die Regulation der Aktivierung, des Antriebs, der Aufmerksamkeit innerhalb der gesamten intra- und interpersonellen Situationserfassung verzahnt sind. Betroffen ist die Funktion best. Thalamus-Kerne als Zeitgeber im Zus.wirken mit den Stammganglien, Teilen des limbischen Systems sowie der Formatio reticularis in Koordination mit dem sprachmotorischen und frontalen Kortex auf der einen, dem zerebralen System auf der anderen Seite (Gehirn). (3) Bzgl. der Ätiologie ist zw. Faktoren zu unterscheiden, die das neurophysiol. Störungsgeschehen des Stotterns hervorrufen können, und solchen, die es aufrechterhalten; Hirnreifungsstörungen; mechanische (Hirnblutung) oder biochemische (z. B. Anoxie, Ikterus) frühkindliche Hirnschädigungen; Stoffwechselstörungen; spätere Hirnverletzungen (aphatisches Stottern) oder -erkrankungen (postenzephalitisches Stottern); asynchrone Entwicklung in einzelnen neurophysiol. Teilsystemen. (4) Abgesehen von Zuständen nach frühkindlicher Hirnschädigung mit Dysphasien nach Enzephalitiden oder Hirntraumen und bei Oligophrenien liegen die Schwerpunkte des Einsetzens von Stottern gehäuft im 3./4., seltener im 7. Lebensjahr und gelegentlich erst in der Pubertät. Das Entwicklungsstottern, früher irreführend physiol. Stottern genannt, zeigt Abweichungen von normaler kleinkindlicher Sprachproduktion in Tempo, Flüssigkeit und Wiederholungstendenz, unterscheidet sich aber andererseits vom bereits fixiertem, späterem Stottern, indem tonische Verkrampfungen und sekundäre Störungen noch weitgehend fehlen. (5) Entspr. der Vielfalt der Störungsbilder und der wechselseitigen Interaktion von physiol. und psychol. Faktoren kann kein einzelnes therap. Verfahren einen sicheren Erfolg bei allen Stotterern jeder Altersstufe und in allen kommunikativen, interpersonalen Konstellationen versprechen. Stets muss aus versch. sprach-/sprech-, verhaltens-, persönlichkeits- und sozialtherap. Techniken ausgewählt werden: atemtechnische Hilfen, Sprechhilfen, Sprechtraining, Mitsprechen, Kaumethode, Akzentmethode, Stopp-Training, rhythmische Sprecherziehung, biokybernetische Therapie, modifiziertes autogenes Training mit Ermutigungs- und Ernüchterungstraining (Übersicht bei Böhme, 1980). Hinzu kommen verhaltenstherap. Methoden (Verhaltenstherapie, Übersicht bei Wendlandt, 1980) wie Systematische Desensibilisierung, auch über Biofeedback, Selbstsicherheitstraining, Einstellungsänderung, Rhythmisierung, Atemmodifikation, verzögerte Sprachrückkopplung (Lee-Effekt), Masking (Lombard-Effekt), Shadowing (Nachsprechen), neg. Praxis, Bestrafungs- oder Belohnungstechniken, Kontingenzveränderung in der Umgebung. Dazu wird eine medikamentöse Zusatzbehandlung diskutiert. Dauerhafte Heilung oder wenigstens Besserung kann bei sorgfältiger und langfristiger Nachkontrolle auch unter Berücksichtigung von Therapeutenwechsel keinesfalls überall nachgewiesen werden, bes. wenn eine Behandlung erst jenseits des 8. Lebensjahres einsetzt. Demgegenüber darf nicht übersehen werden, dass Stottern im Schul- und Pubertätsalter häufig auch ohne Behandlung überwunden wird.

Referenzen und vertiefende Literatur

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