Theoretische Psychologie

 

[engl. theory; gr. θεωρία (theoria) Betrachtung], [HIS, PHI], hat das Ziel, die auf den versch. Gebieten der Ps. entwickelten einzelnen Theorien in einer übergeordneten Sichtweise (Metatheorie) zus.zufassen und die bestehenden Probleme und Kontroversen zu analysieren. Daneben kann Theoretische Psychologie die abstrakten Prinzipien im Unterschied zur Empirie und zur Praxis der Angewandten Ps. meinen. Eine einheitliche Theoretische Psychologie – nach dem Vorbild der Theoret. Biologie oder Theoret. Physik – existiert bisher nicht, und die heterogene Vielfalt der Theorien, auch der Wissenschaftstheorien der Ps., ist unübersehbar. Wenn sich das relativ gesicherte Wissen in ein möglichst umfassendes und einheitliches theoret. System einordnen lässt, sind wiss. begründete Anwendungen in systematischer Weise möglich, d. h. eine wiss. geleitete Praxis und Berufstätigkeit. Diesem Verständnis des wissenschaftlichen Fortschritts wurde durch die Behauptung einer prinzipiellen Krise der Psychologie widersprochen. Eine einheitliche Theorie sei wegen der grundsätzlich unlösbaren Widersprüche zw. den gegensätzlichen erkenntnis- und wissenschaftstheoret. Positionen nicht zu erreichen. Im Vgl. zur intensiven Arbeit an Theoret. Biologie und Theoret. Physik scheint die Theoretische Psychologie gegenwärtig nur relativ geringe fachliche Bedeutung zu haben, denn es mangelt sogar an einem systematisch fortschreibenden Argumentationsprozess.

Bereits um die Jhd.wende 1900, also in der Gründungsphase, existierten versch. Richtungen der empirischen Ps. (empirische Sozialforschung). Es wurde über ihre phil. Voraussetzungen diskutiert, eindringlich durch Wundt, durch Avenarius, Lange, Mach u. a., und wegen der unvereinbaren Positionen behauptete Willy bereits 1899 eine fundamentale Krise der Ps. Kann die naturwiss.-exp. Forschung (Experimentelle Psychologie) das maßgebliche Vorbild der Ps. sein, um allg. psychol. Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen oder sollte sich die Ps. an den Geisteswissenschaften (geisteswissenschaftliche Psychologie) und den Sozialwiss. orientieren und sich um das Verstehen geistiger Vorgänge und die Analyse soz. und kult. Prozesse bemühen? Oder sind, wie Wundt forderte, versch., sich ergänzende Betrachtungsweisen notwendig, eine Perspektivität und ein entspr. multimethodisches (Multi-Methodalität) Vorgehen? Verstehen oder Erklären wurde seit Dilthey zu einer sehr verbreiteten, aber als missverständlich kritisierten Formel. Einflussreich waren auch Brentano mit seiner ausschließlich aus der inneren Wahrnehmung (Introspektion, Phänomenologie) abgeleiteten Ps., Freuds Psychoanalyse, später der amerik. Behaviorismus, die gesellschaftskritischen Strömungen der Ps. (Kritische Theorie) und die Neurowissenschaften.

Die Umrißskizze zu einer Theoretischen Psychologie von Lindworsky (1921/1926) ist das erste Buch mit diesem Begriff. Der Experimentalpsychologe Pauli forderte in seinen nach 1930 entstandenen Entwürfen zu einer Theoretischen Psychologie, dass sie analog zur Theoret. Physik zu entwickeln sei: «Die Aufgabe einer solchen theoretischen Psychologie wäre die systematische Bearbeitung der verschiedenen psychologischen Einzeltheorien und der darin enthaltenen Erklärungsprinzipien derart, dass die Fragen nach den Zusammenhängen und Ableitungsmöglichkeiten das eigentliche Ziel bilden. (...) Auch für die Psychologie muss eine Zeit kommen, in der man sich nicht mehr damit begnügt, eine Unmenge von Einzelergebnissen schön mosaikartig zu ordnen, ohne sich um die inneren Zusammenhänge zu kümmern.»

Wie jede empir.  Wiss. muss die Ps. allg. Voraussetzungen machen, nicht nur solche der Logik und der Kategorienlehre, sondern der Erkenntnistheorie. Als Humanwiss. ist Ps. nicht ohne fundamentale Annahmen über den Menschen (Anthropologie, Menschenbilder) zu bestimmen und zu praktizieren, bspw. in der Päd. oder Klin. Ps. Phil. Voraussetzungen (Postulate) werden zwar in vielen Bereichen der Ps. kaum von Belang sein, sie sind jedoch mitbestimmend, wenn Forschungsprogramme zu begründen sind, Erklärungen und Theorien entwickelt werden oder beurteilt wird, welche Methode dem gemeinten Phänomen adäquat ist. Einige dieser Kontroversen haben eine lange Tradition, und die zentralen Begriffe wurden häufig neu interpretiert, sodass die Verständigung terminologisch erschwert ist. Bsp. ontologischer, kategorialer und methodologischer Kontroversen sind: Leib-Seele-Problem (Gehirn-Bewusstsein-Problem); Subjekt-Objekt-Problem (innere gegenüber äußerer Erfahrung, «Perspektive der ersten und der dritten Person»); Kategorien der Naturwiss. oder der Geisteswiss. (Subjektbezug, Zwecksetzung, willentliche Handlung u. a.); Bewusstsein gegenüber Unbewusstem; Verhaltensmessung und Psychometrie (auch von Gefühlen oder Einstellungen) gegenüber Beschreibung undInterpretation, d. h. quant. und qualitative Methoden (Forschungsprozess; Psychologie, sozialwissenschaftliche); Reduktion (Vereinfachung) von Daten oder auch Reduktion von theoret. Konzepten und Interpretationen (Physikalismus, Neuroreduktionismus) ohne die möglichen Kategorienfehler zu diskutieren; Theorie-Praxis-Problem (Grundlagenforschung-Anwendung);          Labor-Feld-Problem (interne Validität und externe Validität).

 Viele dieser Kontroversen lassen sich in dem allg. Ggs. von Ps. als Naturwiss. oder Ps. als umfassende Humanwiss. (einschließlich geistes- und sozialwiss. Aspekte) bündeln. Das Fortbestehen zentraler Kontroversen erklärt, weshalb es keine einheitliche Wissenschaftstheorie der Ps. und nur aufzählende Bestimmungen, aber keine breit akzeptierte und explizite Def. von Ps. gibt.

Philosophie, insbes. die erkenntnistheoret. Voraussetzungen der empir. Ps. werden in der Phil. der Ps. (Philosophische Psychologie) vertieft, auch im Hinblick auf phil. Orientierungen wie Idealismus und Materialismus, Empirismus, Positivismus, Phänomenologie. Die Philosophische Anthropologie befasst sich mit den Annahmen über den Menschen, wie sie teils auch in den Menschenbildern der Persönlichkeitstheorien  oder in den versch. Richtungen der Psychotherapie erscheinen. Wundt hatte gefordert, dass die Ps. in Verbindung mit der Philosophie bleiben müsse, um solche Postulate und Vorentscheidungen gemeinsam reflektieren zu können. Als Metatheorie würde die Theoretische Psychologie einen Bezugsrahmen (Überbau) liefern, in dem die unterschiedlichen Richtungen und Theorien der Ps. repräsentiert und möglichst widerspruchsfrei zus.gefasst sind, oder zumindest einen vorläufigen Platz finden, um schrittweise harmonisiert und zus.gefügt zu werden. Eine übergeordnete Theoretische Psychologie könnte ein tieferes Verständnis mit neuen Perspektiven und Heuristiken erwarten lassen.

Bestehen bleiben: (1) Die Leitidee einer großen Einheitstheorie (Metatheorie), in welcher die Bereichstheorien begrifflich und strukturell vereinheitlicht und als Synthese dargelegt werden; (2) die metawiss. Systematisierung beim Vergleich einer größeren Menge psychol. Theorien aufgrund wichtiger Merkmale (u. a. Madsen mit seiner formalen Systematisierung psychol. Theorien oder Groebens Programmentwurf zur Integration von Empirismus und Hermeneutik; Psychologie, sozialwissenschaftliche); (3) das Programm, ausgewählte Theorien oder kleine Theoriegruppen zu rekonstruieren, um einen höheren Grad der Formalisierung zu erreichen (u. a. Westmeyers strukturalistische Konzeption); (4) die Untersuchung der erkenntnis- und wissenschaftstheoret., der ontologischen und der anthropologischen Kontroversen, welche der Konzeption einer einheitlichen Theoretische Psychologie entgegenstehen; (5) die Untersuchung von einflussreichen Rahmenbedingungen der Theorienbildung, d. h. von wiss.-soziologischen und wiss.-psychol. Fragen sowie außerwiss. Bedingungen.

 Angesichts der überdauernden und unlösbar erscheinenden Kontroversen zw. den Hauptrichtungen der Ps. (und der Wissenschaftstheorie) ist eine Vereinheitlichung bis auf Weiteres nicht zu erwarten. Die Aufgabe der Theoretischen Psychologie besteht folglich darin, die Gründe darzulegen, weshalb eine solche Einheitstheorie unmöglich ist. Die Auffassung der Theoretischen Psychologie als Systematik und Diskussion der Schlüsselkontroversen führt konsequent zu Anforderungen an die Methodologie, an die Didaktik und die wiss. Ausbildung.

Referenzen und vertiefende Literatur

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