Tic-Störungen

 

[engl. tic disorders, frz. maladie de tic], [KLI], sind gekennzeichnet durch versch. Formen von Tics; Motorische Tics sind plötzlich auftretende, kurz dauernde, abrupte und unwillkürliche Bewegungen von umschriebenen funktionellen Muskelgruppen, ohne dass ein best. Zweck erkennbar ist. Sie treten meist in kurzen Serien auf, die sich wiederholen, sind aber nicht rhythmisch (z. B. Augenblinzeln, Kopfrucken, Grimassieren). Daneben gibt es vokale Tics mit entspr. Lautäußerungen (z. B. Räuspern, Schnüffeln, Lautausstoßungen). Die Tics beginnen i. d. R. im Gesichtsbereich und breiten sich dann nach peripher hin aus. Sie können über die Zeit in Häufigkeit, Art, Intensität, Lokalisation, Ausprägung und Komplexität schwanken (meist in einer Periode von 6–12 Wochen). Vielfach geht den Tics ein sensomotorisches Körpersignal (z. B. Kribbeln im Bauch) unmittelbar voraus, welches etwa ab dem 10. Lebensjahr subj. wahrgenommen wird. Manchmal folgt ein solches Körpersignal aber auch den Tics und drängt den Betroffenen dazu, das Tic-Muster willentlich zu wiederholen. Emot. Erregung (freudig oder ärgerlich) kann die Tics verstärken. Tics können für kurze Zeit willentlich (oder bei Konzentration auf andere Dinge) unterdrückt werden. Sie kommen auch im Schlaf vor, allerdings in abgeschwächter Form, und können Schlafprobleme mit sich bringen. Neben den motorischen und vokalen Tics kommen noch selten folg. Phänomene vor: Wiederholung eigener Laute/Wörter (Palilalie), motorische Tics als obszöne Gesten (Kopropraxie), Ausstoßen obszöner Wörter (Koprolalie), zwangsartige Wiederholung von Gesten anderer (Echopraxie) bzw. von Wörtern anderer (Echolalie).

Ätiologie: Tic-Störungen finden sich gehäuft in Familien von Betroffenen und bes. bei eineiigen Zwillingen. Der Schweregrad ist höher, wenn die Familien beider Elternteile betroffen sind. Mittlerweile sind versch. Risikogene mit kleinem Effekt bekannt. Art und Schwere des klin. Bildes wird zusätzlich durch andere biol. (d. h. nicht genetische) Faktoren bestimmt wie Schädigungen des Zentralnervensystems während der Schwangerschaft (z. B. Alkoholmissbrauch, Infektionen), oder auch durch allergische Reaktionen oder autoimmunologische Prozesse in der frühen Kindheit. Die Art und Weise der Erziehung spielt keine Rolle. Langanhaltender psychosozialer Stress kann aber die Modulation der Tics neg. beeinflussen. Die bisherigen neurobiol. Forschungen erlauben die Darstellung eines vereinfachten Modells der Pathogenese von Tic-Störungen (s. Abb.). Da die mit Selbstregulationsvorgängen verbundenen exekutiven Funktionen (exekutive Dysfunktion) sowie die frontalhirnbezogene hirnelektrische Aktivität bei Pat. mit Tic-Störungen grundsätzlich nicht gestört sind, können entspr. Kompensationsfähigkeiten durchaus erworben und Tics für unterschiedliche Zeiträume unterdrückt werden. Veränderungen der Geschlechtshormone während der Pubertät haben offenbar keinen direkten Einfluss auf die Pathogenese der Tics. Die Verstärkung der Tics im Alter von 10–15 Jahren hängt eher mit dem dann stattfindenden neuronalen Umbau des Gehirns zus. Je mehr sich das Frontalhirn und die damit verbundenen neuronalen inhibitorischen Mechanismen entwickeln, desto mehr kommt es dann zu einer spontanen Linderung der Tics.

Klassifkation: Die Einordnung nach ICD-10 bzw. DSM-5 (Klassifikation psychischer Störungen; s. Anhang I, F95) ist weitestgehend kompatibel. Diese Einteilung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tic-Störungen in der Wirklichkeit ein Kontinuum der Symptomatik darstellen. Zur Festlegung der Diagnose einer chronischen Tic-Störung ist es wichtig, dass die Tics mehrmals täglich entweder fast jeden Tag oder intermittierend im Verlauf eines ganzen Jahres auftreten. Der Zeitraum 4 Wochen bis 12 Monate gilt für die vorübergehende/vorläufige Tic-Störung. Um die Diagnose eines Tourette-Syndroms (Gilles-de-la-Tourette-Syndrom) stellen zu können, muss die Person Folg. aufweisen: (1) Zwei oder mehr motorische Tics sowie zusätzlich einen (oder mehrere) vokale Tics. Die Tics müssen nicht unbedingt im gleichen Zeitraum auftreten, d. h. sie können auch sequenziell sein; (2) Chronizität der Tics über mehr als 12 Monate (s. o.); (3) Beginn vor dem 18. Lebensjahr (unsicheres Kriterium!); (4) Tics können nicht durch eine andere med. Ursache oder Substanzmissbrauch erklärt werden.

Prävalenz und Verlauf: Tic-Störungen finden sich häufiger bei Jungen als bei Mädchen (4:1). Etwa 10 % der Grundschulkinder weisen irgendwann einmal einen oder mehrere Tics auf. Chronische vokale bzw. motorische Tic-Störungen finden sich in etwa 4 % der Bevölkerung, ein Tourette-Syndrom in etwa 1 %. Nur ein Teil davon ist behandlungsbedürftig bzw. kommt zur Behandlung. Die Abnahme der Prävalenzrate von Tic-Störungen mit dem Alter weist auf die Tendenz zur Spontanremission im Verlaufe der Entwicklung vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen hin. Die Langzeitbetroffenheit ist nicht an den Schweregrad geknüpft, d. h., auch leichte, einfache Tics können lebenslang anhalten. Trotz Fortbestehens der Tics zeigt sich im weiteren jahrelangen Verlauf meist eine Reduktion der Nutzung von Therapien, weil diese ausgeschöpft sind bzw. der Umgang mit der Tic-Störung souveräner geworden ist und damit psychosoziale Beeinträchtigungen weitgehend entfallen. Tic-Störungen treten zwar familiär gehäuft auf, kult./ethnische Faktoren zeigen aber keinen Einfluss auf die Inzidenz und Kern-Symptomatik, lediglich internalisierende Begleitsymptomatik (z. B. Ängstlichkeit, Zwänglichkeit) kann kult. etwas abweichen. Motorische Tics treten meist erstmals im Alter von 3 bis 8 Jahren mit vorübergehenden Phasen von verstärktem Augenblinzeln oder anderen Bewegungen im Gesichtsbereich auf. Üblicherweise folgen erste vokale Tics wie Räuspern oder Schniefen mit einer Verzögerung von einigen Jahren. In der Mehrzahl der Fälle kommt es im zweiten Lebensjahrzehnt (oft synchron mit der Pubertätsentwicklung) zu einer Zunahme der Tics, während um das 20. Lebensjahr eine deutliche Abnahme bis hin zum Sistieren der Tic-Symptomatik zu beobachten ist. Die Kenntnis dieses schwankenden natürlichen Verlaufs ist für den Praktiker von größter Wichtigkeit. Denn nur aufgrund der adäquaten Einschätzung der längerfristigen Symptom-Ausprägung und keinesfalls aufgrund einer kurzfristigen, evtl. dramatischeren Tic-Symptomatik können valide Informationen zu Diagnose, Prognose und Behandlungsregime gegeben werden. Zudem spielt dieser Aspekt auch bei Entscheidungen über evtl. Dosisanpassungen bzw. Medikamentenumstellung eine wichtige Rolle. So kann eine Intervention zu einem best. Zeitpunkt (z. B. Methylphenidat, Tiaprid) trotz fehlender Wirksamkeit eine Reduktion der Tics nach sich ziehen. Verantwortlich hierfür ist dann evtl. in erster Linie nicht die Effektivität der Intervention, sondern die natürliche Schwankung der Tic-Ausprägung. Umgekehrt kann auf eine zu einem anderen Zeitpunkt erfolgte eigentlich wirksame Intervention zunächst eine Zunahme der Tics folgen, dann möglicherweise aber in abgeschwächter Form. Daher ist die Einschätzung einer Wirkung erst nach längerer Beobachtungszeit möglich. Die Art der Behandlung bzw. Art und Schweregrad assoziierter Psychopathologie scheinen den Spontanverlauf der Tic-Symptomatik nicht wesentlich zu beeinflussen.

Diagnostik: Es gibt keinen diagn. Labor- oder Apparatetest, um eine Tic-Störung festzustellen. Über die allg. diagn. Abklärung bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter hinaus (wichtig wegen den häufigen begleitenden Problemlagen sowie der diffenzialdiagn. Betrachtung) sind bei Tic-Störungen bes. diagn. Aspekte zu beachten. Da die Pat. oft in der Untersuchungssituation keine Tics zeigen, wegen der willentlichen, aber auch unwillentlichen Unterdrückbarkeit derselben, ist eine sehr sorgfältige indiv. und familiär-interaktionelle Entwicklungsgeschichte der Tics zu erheben. Wenn möglich, sollte eine Videoaufnahme aus dem Alltag erbeten werden, um die Bewegungsmuster und den Umgang damit genau zu erfassen. Während Kinder unter 10 Jahren ihre Tics selbst weniger wahrnehmen und sich deshalb über die Reaktionen der Umgebung wundern, erleben ältere Kinder und Jugendliche die Symptomatik oft als beschämend und neigen zum Rückzugsverhalten. Sie können bei der Exploration daher anfangs verschlossen wirken, was eine sehr bedachtsame und differenzierte Vorgehensweise erfordert. Es ist eine sehr genaue Erarbeitung der einzelnen Tics, der sensomotorischen Phänomene sowie der Selbstkontrollversuche (Selbstkontrolle) erforderlich, um die Chance und Nützlichkeit einer evtl. Verhaltenstherapie abschätzen zu können. Neben den Informationen der Betroffenen sind diejenigen der Mütter am zuverlässigsten und genauesten. Dies gilt insbes. hinsichtlich Stressempfindlichkeit, Problemverständnis, subj. Erklärungsmodellen, psychosozialer Belastung und Krankheitsbewältigung. Über das klinische Interview mit Kind und Eltern sowie die unmittelbare Verhaltensbeobachtung hinaus sind Videoaufnahmen und Checklisten bzw. Beobachtungsbögen (z. B. Diagnose-Checkliste für Tic-Störungen, DCL-Tic; Yale-Tourette-Syndrom-Symptomliste, YTSS; Yale-Global-Tic-Schweregrad-Skala, YGTSS) hilfreich. Darüber hinaus sind neben der Abgrenzung zu anderen Bewegungsstörungen (z. B. Blepharospasmus, Myoklonus, Chorea oder einer Epilepsie (z. B. Absencen)) hauptsächlich die Merkmale einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie einer Zwangsstörung entwicklungspsychopathologisch abzuklären; auch Ängstlichkeit (z. B. Trennungsangst) sollte bedacht werden. ADHS und Zwangsstörungen kommen bes. häufig gemeinsam mit Tic-Störungen vor. Gerade der psychopathologische Übergang von motorischen Tics über sensomotorische Drangphänomene zu Zwangsverhalten spielt für die differenzierte Therapie eine wichtige Rolle und muss daher eingehend exploriert/beobachtet werden. Die sorgfältige körperliche Untersuchung gehört ebenfalls dazu, eine neuropsychol. Abklärung nur bei evtl. kogn. Problemen. Tic-Störungen, Psychotherapie, Tic-Störungen, Psychopharmakotherapie.

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Tic-Störungen: Vereinfachtes Modell der Pathogenese

Referenzen und vertiefende Literatur

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