Wehrpsychologie
[engl. military psychology], [AO, DIA, KLI, SOZ], Teilgebiet der Angewandten Ps., Anwendung der Arbeits- und Organisations- sowie der klin. Ps. in den Streitkräften und in der Wehrverwaltung. I. w. S. befasst sich Wehrpsychologie mit Personalgewinnung und Personalpflege (Personalauswahl, Personalentwicklung). Einsatzschwerpunkte der Wehrpsychologie richten sich nach der jew. Bedarfslage der Streitkräfte in Bezug auf ps. Dienstleistungen. Aufgrund der einsatzorientierten Umstrukturierung der Streitkräfte und der zunehmenden Belastung der Soldaten und ihrer Angehörigen im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen gewinnt die Truppenps. als Teilbereich der Wehrpsychologie immer mehr an Bedeutung. Wehrpsychologie als Wissenschaft hat ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg. In Dt. führten Psychologen auf der Grundlage der Massenpsychologie Feldforschungen im Kriegseinsatz durch. Das Militär konnte jedoch mit Ergebnissen über emotionale Ansteckung oder kollektive Identitäten (kollektives Verhalten) wenig anfangen. Demgegenüber gelang es bereits ab 1915 amerik. Psychologen (Yerkes, Goddard, Goddard), rund 1,75 Mio. Wehrpflichtige mithilfe des Army Alpha Test (später: Army General Classification Test; Army Alpha Test, Army Beta Test, Army General Classification Test) den Erwartungen entspr. auszuwählen. Eine vorübergehende Vorrangstellung genoss die dt. Wehrpsychologie zw. den beiden Weltkriegen auf eignungsdiagn. Gebiet durch die Einführung realitätsnaher Situationstests und durch subtilen Ausbau der individualdiagn. bedeutsamen Charakterkunde (Lersch, Rudert, Eckstein, Simoneit), was bei zu geringer Beachtung forschungsstatistischer Erfordernisse zugleich ihre Schwäche war. Als Folge der rapiden Entwicklung moderner Führungs- und Waffensysteme mit erhöhten Anforderungen an Wehrtechnik, Logistik und Infrastruktur und mit der notwendigen Anpassung der Streitkräfte an leistungsorientierte Gesellschaftssysteme ergaben sich nach dem Zweiten Weltkrieg neuartige Aufgabenstellungen für die Wehrpsychologie, die je nach Tradition und Organisation in den einzelnen Ländern unterschiedlich gewichtet werden. Zw. den Wehrpsychologen der meisten Staaten besteht ein reger Erfahrungs- und Informationsaustausch, in dem folg. Hauptbereiche einbezogen sind:
(I) Personalps.: (1) Eignungsfeststellungen und Verwendungsuntersuchungen bei Wehrpflichtigen und Freiwilligenbewerbern für die Laufbahnen der Mannschaften, Unteroffiziere, Feldwebel und Offiziere mittels computergestützter, z. T. adaptiver Leistungs- und Funktionstests, Interviews und Gruppensituationsverfahren. (2) Eignungsfeststellungen für spez. militärische und/oder zivile Verwendungen (Spezialistenauswahl, Laufbahnwechsel, berufliche Umschulungsmaßnahmen) unter Verwendung von computergestützten Leistungs- und Persönlichkeitstests, Interviews, Gruppensituationsverfahren sowie von simulationsgestützten Testverfahren (Steyer et al., 2000).
(II) Luftfahrtps.: Eignungsfeststellungen von fliegendem Personal sowie Flugsicherungskontroll- und Radarführungsdienstpersonal (u. a. mithilfe von realitätsnahen Arbeitsproben), klin.-psychol. Diagnostik und Therapie bei Luftfahrzeugbesatzungen, ps. Betreuung des fliegenden Personals i. R. der Einsatzvor- und Nachbereitung, Krisenintervention und flugpsychol. Begutachtung bei Flugunfällen, Beiträge zur exp. Flugphysiologie, flugpsychol. Ausbildung.
(III) Truppenps.: psychol. Beiträge für die Vor- und Nachbereitung sowie bei der Begleitung von militärischen Einsätzen. Schwerpunkte der Einsatzvorbereitung sind Stress und Stressbewältigung, Umgang mit Tod (Sterben und Tod, Einstellungen zu) und Verwundung, Verhalten bei Geisel- und Gefangennahme und interkulturelle Kompetenz. Einsatzbegleitung durch Truppenpsychologen zur Beratung der militärischen Führer und zur Betreuung der eingesetzten Soldaten. Einsatznachbereitung erfolgt vor allem in Reintegrationsseminaren und i. R. von Rekreationsmaßnahmen für belastete Soldaten. Truppenpsychologen unterstützen auch bei Betreuungsmaßnahmen der Familienbetreuungszentren und werden als Leiter oder Mitglieder von Kriseninterventionsteams bei Unfällen und Großschadensereignissen eingesetzt.
(IV) Klinische Ps.: Klinische Psychologen wirken bei der Diagnostik und Therapie von Soldaten mit psych. und psychosomatischen Erkrankungen mit. Dabei geht es um das gesamte Spektrum psychiatrischer Erkrankungen mit Schwerpunkten bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Alkohol- und Drogenproblemen, Lern- und Leistungsstörungen, Phobien, Depressionen und Suizidversuchen.
(V) Psychol. Ergonomie: im Verbund mit der med. und technischen Ergonomie (Anthropotechnik, human factors engineering) Erarbeitung von Grundlagen und Richtlinien für Entwicklung und Erprobung von Waffen und Geräten (ergonomische Normen z. B. für Schiffe, Landfahrzeuge, Luftfahrtgerät); Optimierung von Bedienungselementen und Steuereinrichtungen hinsichtlich der menschlichen Leistungsfähigkeit; Anforderungs-, Belastungs- und Arbeitsablaufanalysen zur Wirkungssteigerung des Regelkreissystems Mensch-Maschine (Mensch-Maschine-System).
(VI) Sozialps., Organisationsps.: trägt zur Lagebeurteilung und Entscheidungsfindung beim militärischen und zivilen Führungspersonal bei. Arbeitsschwerpunkte sind die Feststellung der inneren Lage (Motivation, «Moral») der Streitkräfte und die Bewertung der Rahmenbedingungen des Miltärdienstes (Betreuung, Fürsorge, Personalführung, Attraktivität, Dienstzeitbelastung, Zulagen). Weitere Themen sind: Feststellung der Belastung von aus dem Einsatz zurückkehrenden Soldaten, interkulturelle Probleme bei multinationalen Verbänden. Eingesetzt werden i. d. R. standardisierte Befragungsinstrumente und Einzelinterviews.
(VII) Ausbildungsps. (Aus- und Fortbildung, Personalentwicklung): Entwicklung und Überprüfung von Ausbildungsmethoden, vor allem bei kostenintensiven Ausbildungsgängen (fliegendes Personal, Flugsicherungskontrollpersonal, Kommandosoldaten), simulationsgestützte Ausbildung, programmiertes Lernen; Messung des Leistungsstandards militärischer Einheiten in verschiedenen Ausbildungsstadien (Qualitätskontrolle).
Ergebnisse wehrpsychol. Projekte werden in Fachzeitschriften sowie in spez. Publikationsorganen – in Dt. «Untersuchungen des Psychol. Dienstes der Bundeswehr» und «Arbeitsberichte PsychDstBw» – referiert (Rauch & Steeg, 1995).